Serenade für Nadja
abgeholt hatte.
Angelika Traub verließ den Raum, um die Dokumente zu holen. Nervös rieb ich mir die Hände und ließ ein paarmal meine Finger knacken.
Da kam die Frau zurück. Sie legte alles auf einem Tisch vor mir ab und ging wieder. Ich setzte mich an den Tisch.
Ich schlug den Aktendeckel vorsichtig auf. Sofort schlug mir der für alte Papiere so typische Geruch entgegen. Nach einigen auf Deutsch geschriebenen Dokumenten hatte ich auf einmal Fotos vor mir. Maximilian als junger Mann, und neben ihm eine dunkelhaarige wunderhübsche Frau. Nadja!
Jetzt sah ich sie zum ersten Mal. Sie blickte direkt in die Kamera, voller Offenheit. Ihre Wangenknochen waren hervorstehend, ihre Augenbrauen nach oben geschwungen. Von den hellen Augen wurde man augenblicklich gefangengenommen. Auf einigen Fotos war sie auch alleine abgebildet. All das war 1942 aus der Wohnung in der Nasip-Straße mitgenommen worden. Und jetzt lag es vor mir. Es war kaum zu glauben.
Ich ging zu den Kleinwüchsigen und fragte sie: »Kann man hier etwas kopieren lassen?«
»Klar«, antwortete der Mann. »Man darf nur nichts aus dem Raum mitnehmen. Aber Sie brauchen sich nur an die Angestellten zu wenden.«
»Sind Sie auch Angehörige eines Opfers?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete diesmal die Frau. »Wissen Sie was, gehen wir doch in die Cafeteria, dort können wir uns in Ruhe unterhalten.«
»Gerne. Ich lasse die Kopien machen, dann können wir gehen.«
Ich wandte mich wieder den Unterlagen zu. Und da sah ich sie auf einmal. Da war sie. In meinen Händen. Auf einem vergilbten Notenblatt stand mit Tusche geschrieben:
Serenade für Nadja
Maximilian Wagner
Ich schloss die Augen und dankte allen Göttern des Universums. Mir kamen die Tränen. Die beiden Kleinwüchsigen warfen mir verständnisvolle Blicke zu. Wenn ich doch Noten lesen könnte, dachte ich, dann würde ich die Melodie nun hören.
Ich ging zur Anmeldung und äußerte meinen Wunsch, etwas zu kopieren.
»Warten Sie drüben, Frau Traub kommt gleich.«
Ich zeigte ihr dann die Noten und die Fotos, auf die es mir ankam, und fünf Minuten später kam sie mit den Kopien zurück. Sie händigte mir eine Quittung aus und sagte: »Wenn Sie das bitte an der Kasse zahlen möchten.«
»Entschuldigen Sie, aber da wäre noch was.«
»Was denn?«
»Das Blaue Regiment.«
Auf ihren fragenden Blick hin erklärte ich ihr, um was es sich handelte.
»Davon höre ich zum ersten Mal«, erwiderte sie. »Suchen Sie jemand Bestimmten?«
»Ja, meine Großmutter. Sie hieß Ayşe, aber Nachnamen gab es damals noch keine, so dass ich nicht weiß, wie ich suchen soll.«
»Da helfe ich Ihnen schon. Aber vorher müssen wir noch was anderes erledigen.«
»Ja?«
»Wir müssen Ihren Antrag ergänzen.«
»Warum?«
»Weil Sie bisher als Forscherin hier waren. Jetzt aber sind Sie Angehörige eines Opfers, das muss im Antrag festgehalten werden.«
Ich sagte zwar nichts, doch fand ich diese Formalität höchst überflüssig. Wozu sollte das gut sein? Aber das war eben die deutsche Disziplin, dachte ich.
Als ich noch klein war, wurde uns diese Disziplin als Vorbild hingestellt, mit so absurden Beispielen wie von dem Gärtner, der pflichtbewusst den Rasen sogar dann sprengt, wenn es regnet. Mein Vater behauptete immer, durch ein diszipliniertes Leben werde die Freiheit des Menschen nicht eingeschränkt, sondernvermehrt. Man bekomme dadurch sein Leben in den Griff und verfüge über mehr Freizeit und Unabhängigkeit, ohne anderen zur Last zu fallen. An solchen Argumenten war wohl auch etwas dran. Und hätten die Angestellten des ITS nicht so peinlich genau gearbeitet, wäre das Archiv bestimmt auch nicht so umfangreich geworden.
Ich ging also wieder zur Anmeldung und ließ den erforderlichen Zusatz eintragen.
Als ich wieder zurück war, standen die beiden Kleinwüchsigen auf und stellten sich vor. Es waren Rumänen namens Ovitz, und nicht etwa ein Ehepaar, wie ich gedacht hatte, sondern Geschwister. Sie waren erfreut zu hören, dass ich aus Istanbul kam.
Wir gingen in die Cafeteria. Der Mann bestand darauf, unsere Getränke und Kuchen zu holen, und ich setzte mich mit seiner Schwester an einen Tisch. Das Tablett, mit dem der Mann zurückkam, wirkte in seinen Händen riesig, doch er wollte sich nicht helfen lassen. Es hatte etwas Rührendes, wie ausgesucht höflich der Mann war.
Ich erzählte den beiden, dass meine Suche im ITS auch mit Rumänien zu tun hatte und ich mich wahnsinnig freute, die Fotos von Nadja
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