Serenade für Nadja
gefunden zu haben. Über die Struma wussten sie natürlich Bescheid.
Die beiden waren im Begriff, über Familienangehörige ein Buch zu schreiben und kamen daher seit Wochen täglich zum ITS. Ich fragte sie, ob jene Personen auch zu den Naziopfern zählten.
»So kann man es wohl nennen«, sagte der Mann. »Obwohl man sich unter Opfern meistens die Menschen vorstellt, die in den Lagern umgekommen sind. Unsere Leute gehörten zu den wenigen, die Auschwitz überlebt haben.«
Dann erzählte er mir die bestürzende Geschichte seiner Familie, in der es sowohl Klein- als auch Normalwüchsige gab. Als die Deutschen Rumänien besetzten, wurden aus der Familie sieben Kleinwüchsige und zwei Normalwüchsige nach Auschwitz gebracht. Dort mussten sie sich nackt ausziehen und in die als Duschräume getarnten Gaskammern gehen. Die Vergasung wurde eingeleitet.
Da ließ der als »Todesengel von Auschwitz« bekannte Dr. Mengele den Vorgang stoppen und die Kleinwüchsigen aus der Gaskammer holen. Da sie schon Gas eingeatmet hatten, brachte man sie zum Erbrechen und gab ihnen Milch zu trinken.
Dr. Mengele benutzte die Mitglieder der Familie als Versuchsobjekte bei seinen Forschungen über Erbkrankheiten. Sie wurden in eine andere Abteilung verlegt, wo man ihnen Blut und Knochenmark entnahm und sie Strahlungen aussetzte. Es wurde ihnen heißes und kaltes Wasser in die Ohren gespritzt, man verätzte ihre Augen, und den Frauen wurden in die Gebärmutter alle möglichen Chemikalien injiziert.
Einmal führte er sie nackt all seinen Kollegen vor, und ein andermal ließ er sie etwas singen und dazu Klamauk veranstalten, und das Filmchen, das er davon drehte, war zum Amüsement von Adolf Hitler gedacht. Als das Lager durch die Rote Armee erobert wurde, kamen die Kleinwüchsigen frei.
Wenn der Mensch zu so etwas fähig war, was hatte dann das Leben für einen Sinn? Ich war völlig benommen. Wer weiß, was in diesem riesigen Gebäude jeder Fetzen Papier für Tragödien enthielt?
Als wir zurück in dem Raum mit den Computern waren, erklärte mir Angelika Traub, sie habe zwar Unterlagen über das Blaue Regiment gefunden, doch seien sie alle auf Deutsch beziehungsweise Russisch.
»Und Bilder gibt es keine?«, fragte ich. Es gab nur eines, eine Gruppenaufnahme der Insassen des Flüchtlingslagers in Österreich. Ich ließ es mir fotokopieren, ebenso die deutschen und russischen Dokumente. Dann verabschiedete ich mich von den Geschwistern Ovitz und verließ den ITS.
Im Hotel lieh ich mir eine Lupe aus und sah mir sorgfältig jedes einzelne Gesicht der Flüchtlinge an der Drau an, in der vagen und bald enttäuschten Hoffnung, meine Großmutter zu erkennen.
Am Tag darauf reiste ich zurück nach Istanbul. Immer wieder sah ich auf das Foto von Nadja und auf die Noten, von denen ich nichts verstand.An dieser Stelle möchte ich ein wenig gegen die Chronologie verstoßen und ein Zitat einfügen, das ich erst später in einem Buch fand, denn ich finde, hierher passt es am besten.
In einem der Werke Auerbachs taucht ein Essay auf, den er unter dem Titel »Der Triumph des Bösen« über Pascal geschrieben hatte. Insbesondere die mit einem Pascal-Zitat beginnende Einleitung fand ich erhellend, denn jene Beispiele staatlicher Gewalt, mit denen ich damals konfrontiert wurde, fanden darin ihre Erklärung:
Es ist richtig, dem Gerechten zu folgen; es ist notwendig, dem Mächtigsten zu folgen. Die Gerechtigkeit ist ohnmächtig ohne die Macht; die Macht ist tyrannisch ohne die Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit erfährt viel Widerspruch, wenn sie keine Macht hat, weil es immer böse Menschen gibt; die Macht wird angeklagt, wenn sie nicht gerecht ist. Man muss also die Gerechtigkeit und die Macht vereinigen, und dazu muss man bewirken, dass das mächtig sei, was gerecht ist, oder dass gerecht sei, was mächtig ist.
Über die Gerechtigkeit lässt sich streiten; die Macht ist auch ohne Streit leicht erkennbar. Deshalb konnte der Gerechtigkeit keine Macht gegeben werden, denn die Macht widersprach der Gerechtigkeit und sagte, sie selbst sei gerecht. Und da man nicht bewirken konnte, dass das Gerechte mächtig sei, ließ man das Mächtige gerecht sein.
Am Ende seiner Ausführungen äußerte Auerbach über die Theoretiker der Staatsraison:
Sie (…) fragten nach dem Staat um des Staates willen, sie sahen im Staat einen Wert; sie hatten, wie Machiavelli, Freude an seiner lebendigen Dynamik, oder doch wenigstens, wie Hobbes, energisches Interesse an dem Nutzen,
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