Serenade für Nadja
ging ich in ein Reisebüro und erkundigte mich, wie am besten nach Kassel zu kommen war. »Sie können entweder nach Frankfurt oder nach Hannover fliegen, und von dort fahren Sie mit dem Zug weiter«, sagte die junge Frau am Schalter.
Ich buchte für den nächsten Tag einen Flug nach Frankfurt.
»Haben Sie für Deutschland ein Visum?«
»Ich habe einen grünen Pass.«
Diesen Spezialpass, mit dem ich ohne Visum in alle Schengen-Länder einreisen durfte, verdankte ich meiner Arbeit an der Uni, und nun wollte ich ihn endlich auch einmal nutzen.
Am Nachmittag ging ich zur Bank und hob die 500 Mark ab. Das war nicht besonders viel, aber lange wollte ich in Deutschland ohnehin nicht bleiben.
Am Abend stand das Gespräch mit Kerem an. Ich erklärte ihm, so gut ich konnte, was passiert war. Von den Zeitungsartikeln zeigte ich ihm nur den letzten.
»Manchmal passieren einem eben Dinge, die man nicht vorhersehen kann. Aber ich habe letzte Woche gesehen, was für ein kluger und mutiger Junge du geworden bist. Du bist reif genug, um zu begreifen, was ich dir jetzt sagen werde. Es ist so, dass ich wegen dieser Verleumdung meine Arbeit verloren habe.«
»Die haben dich rausgeschmissen?«, fragte er mich mit aufgerissenen Augen.
»So kann man es auch sagen. Ich denke, der wahre Grund dafür sind die Spionagegeschichten, in die wir uns eingemischt haben. Das andere ist nur ein Vorwand.«
»Dann ist also der Mann wirklich ein Spion?«
»Nein, aber er wird für einen gehalten. Da ich jetzt arbeitslosbin, kann ich nicht mehr das gleiche Leben weiterführen wie bisher. Ich möchte daher, dass du für eine Weile bei deinem Vater wohnst. Etwas anderes bleibt uns sowieso nicht übrig.«
»Und wie lange?«
»Bis alles wieder ins Gleis kommt. Es ist ja nicht mehr so weit bis zu den großen Ferien. Im Sommer fahren wir zu deinen Großeltern nach Bodrum, und im Herbst wohnen wir wieder zusammen. Es sind also gerade mal drei Monate, und da werden wir uns auch oft sehen. Ich kann doch ohne dich nicht leben. Also, was sagst du?«
Er zuckte die Schultern.
»Was soll ich schon sagen?«
Das gab mir einen Stich. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich das alles nur tat, um ihm eine bessere Zukunft zu bieten. Ich würde einen großen Sprung nach vorne tun, aber dazu musste ich eine Weile meine Freiheit haben.
Jahrelang hatte ich uns mit meinem Gehalt durchgebracht, hatte Raten gezahlt und versucht, etwas zu sparen. Durch diese Lebensweise wurde man regelrecht konditioniert. Je nach Gehalt entwickelte man bestimmte Bedürfnisse, und es drehte sich alles nur noch darum, einen entsprechenden Lebensstandard aufrechtzuerhalten.
Wenn es auch nicht aus eigenem Willen heraus geschehen war, so hatten doch die Ereignisse der letzten Tage mein Leben umgekrempelt. Ich würde nun den ersten Schritt zu einem freieren Leben und einer selbständigeren Arbeit tun, von dem ich – wie jeder Angestellte – insgeheim geträumt hatte. Erleichtert wurde mir dies durch die Geldeinlage, die Tarık auf wundersame Weise vermehrt hatte. Auf ein regelmäßiges Einkommen würde ich von nun an nicht mehr angewiesen sein, es reichte schon, wenn ich hin und wieder etwas dazuverdiente. Nur um Dinge wie eine Krankenversicherung und die Altersversorgung würde ich mich kümmern müssen. Aber das hatte alles keine große Eile. Ich würde es der Reihe nach erledigen.
Wäre mir das alles erst Jahre später widerfahren, hätte ich vermutlich ganz anders empfunden. Da mein Angestelltendaseinnoch länger angedauert hätte, wäre ich zu jemandem geworden, dem die Sicherheit des Arbeitsplatzes über alles ging.
Wie sehr ich doch Maximilian zu Dank verpflichtet war … Ohne es auch nur im Mindesten zu ahnen, hatte er mir so viel Gutes getan. Durch ihn war verursacht worden, dass man mich verleumdet und entlassen hatte, aber auch, dass ich zu jemandem geworden war, der mit dergleichen fertig wurde. Mir war die Chance zuteilgeworden, einem unbedeutenden Leben zu entkommen.
Bevor ich zu Bett ging, verbrachte ich noch einige Zeit im Internet. Zuerst erkundigte ich mich nach dem Wetter in Deutschland. Es war eiskalt dort, mit Temperaturen unter null. In Bad Arolsen lag Schnee.
Dann ging ich auf die Seite www.its-arolsen.org und sah nach, unter welchen Bedingungen das Archiv zugänglich war. Es stand Opfern und ihren Angehörigen sowie staatlichen Organen zur Verfügung, aber auch Forscher durften es benutzen. Der Zugang war kostenfrei, lediglich für Fotokopien und CDs
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