Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livanelli
Vom Netzwerk:
Passagiere der Struma zu retten. Sie versprachen den Behörden alles Mögliche, um die Erlaubnis zu erwirken, dass die Menschen das Schiff verlassen und auf dem Landweg nach Palästina gelangen konnten, doch nützte dies alles nichts.
    Die britische Regierung und ihr Geheimdienst setzten alles daran, dass um die Struma kein Aufhebens gemacht wurde und nicht weitere Juden nach Palästina kamen.
    Wie auf dem Schiff trotz alledem das Leben weiterging, zeugte davon, dass der Mensch auch in der misslichsten Lage nicht die Hoffnung verliert.
    Ein junges Paar wurde auf der Struma von einem Rabbi getraut. Es wurden gesellschaftliche Aktivitäten organisiert. Zwei Musiker gaben jeden Abend ein Konzert. In hebräischer Literatur und jüdischer Geschichte wurde Unterricht abgehalten.
    Es herrschte ein für Istanbuler Verhältnisse ungewöhnlich strenger Winter, und alles war vereist. Um aber den Menschen auf dem Schiff zu zeigen, dass ihrer gedacht wurde, fachten Istanbuler Juden am Bosporusufer ein Feuer an und schafften ständig Holz herbei, damit es nicht verlosch.
    Es tat mir gut, inmitten all des Leids auf so hoffnungsvolle Zeilen zu stoßen. So entspannte ich mich ein wenig und schlief irgendwann ein.
    Als ich am nächsten Morgen in der Uni ankam, merkte ich an den seltsamen Blicken der Leute, dass mir Süleyman ein Bein gestellt hatte. Alle tuschelten, und wenn ich näher kam, verstummten sie.
    In den Augen der Männer sah ich Begierde, aus Frauenaugen blitzte Feindseligkeit. Die Leute glaubten doch wohl nicht im Ernst, dass ich mit einem Siebenundachtzigjährigen geschlafen hatte? Aus ihrem Verhalten ließ sich genau das Gegenteil schließen. Als schöpften sie aus dem Vorfall neue Energie. Während ich mir vertrocknet vorkam, schienen sie aufzublühen.
    Normalerweise wäre ich mit solchem Unsinn schon fertig geworden, aber in dieser Woche hatte ich nicht die Kraft dazu. Ich war einfach ausgelaugt.
    Das lag nicht nur daran, dass Max aus meinem Leben getreten war. In meinem Kopf vermischten sich die Geschichten Nadjas und meiner beiden Großmütter und erfüllten mich mit unendlichem Schmerz. Was den drei Frauen widerfahren war, einer Türkin, einer Armenierin und einer Jüdin, die nichts voneinander wussten, ließ mich an Mensch und Welt verzweifeln.
    Mich ließ erstarren, wie unendlich schlecht die Menschen sein konnten, und so fühlte ich mich nicht in der Lage, mich mit der Uni auseinanderzusetzen, und mit einem Süleyman, der mit Wollust Gerüchte streute, um Unfrieden zu stiften. Ich wollte nur weg.
    Mir einem Ruck stand ich von meinem Schreibtisch auf und ging. Ich würde mich einfach eine Woche krankschreiben lassen. Darüber würden sich alle ärgern, aber das war mir nun auch schon egal.
    Die letzte Woche hatte mich verändert. Ich hatte gelernt, das Leben, das ich führte, von außen zu betrachten und es neu zu bewerten.
    Ich ging zu Fuß zum Beyazıt-Platz und stieg dort in ein Taxi. Zwar regnete es nicht, aber der Himmel war kalt und grau. Von zu Hause rief ich im Rektorat an und sagte, ich sei krank und könne ein paar Tage nicht kommen. Ein ärztliches Attest würde ich ihnen schicken. Bevor die Sekretärin etwas antworten konnte, legte ich auf.
    Die Wohnung machte einen verwahrlosten Eindruck. Das Waschbecken war schmutzig, die Bettwäsche musste gewechselt werden, und Staubwischen war auch wieder fällig. Vor allem in Kerems Zimmer sah es aus wie in einem Schweinestall. Ich rührte aber nichts an.
    Eine Weile saß ich reglos da, dann rief ich Tarık an.
    »Können wir uns heute Abend treffen?«, fragte ich ihn.
    »Ach so«, erwiderte er fröhlich, »ist dein Alter also weg?«
    »Ja.«
    »Gut. Soll ich dich um halb sieben abholen?«
    »Nein, ich komme zu dir.«
    »In Ordnung. Bis dann.«
    Ich zog im Schlafzimmer die Vorhänge zu, legte mich im Finstern ins Bett und schlief wie ein Stein.
    Gegen Abend klingelte es an der Tür. Es war Kerem. Er hatte zwar einen Schlüssel, aber trotzdem läutete er oft lieber.
    »Wie war’s in der Schule?«
    »Ging so.«
    Und schon verschwand er in seinem Zimmer. Das dünne Band zwischen uns war anscheinend gerissen.
    Ich füllte die Badewanne und legte mich hinein. Den Wasserhahn drehte ich nicht ganz zu, denn ich hörte es gerne plätschern, anstatt einfach im ruhigen Wasser dazuliegen. Das heißeWasser und der Badeschaum taten meinem Körper und meinen ramponierten Gefühlen gut. Ich schloss die Augen und überließ mich der wohligen Umarmung des Wassers. Dann versuchte

Weitere Kostenlose Bücher