Serenade für Nadja
musste. Schließlich war es so weit gekommen, dass das Papiergeld zum Heizen verwendet wurde.
»Darin besteht ja das ganze Geheimnis. Vereinfacht gesagt ist es mit der türkischen Lira so sehr abwärts gegangen, dass der Übernachtzins auf neuntausend Prozent gestiegen ist.«
»Und?«
»Auf diesen Zins habe ich das Geld all meiner Kunden angelegt, und das deine und meine gleich mit. Neuntausend Prozent pro Nacht. Nacht für Nacht kriegt dein Geld damit Junge.«
»Aber gegenüber den Devisen …«
»So geht es ja nicht ewig weiter. Wirst sehen, auch das mit dem Dollar stabilisiert sich wieder. Vertrau mir nur. Und sogar in Devisen umgerechnet verdienst du nicht schlecht momentan.«
»Wie viel?«
»Du hast jetzt doppelt so viel wie letzten Monat. Aber nur Geduld, das wird noch viel mehr. In Krisenzeiten lässt sich am meisten gewinnen, das wissen nur die meisten nicht.«
Sollte er mein Geld verdreifachen können, müsste ich nicht mehr arbeiten gehen.
Tarık hob sein Glas.
»Auf die neureiche Maya!«
»Bloß nicht.«
»Warum denn?«
»Neureiche sind Leute, die ihren Reichtum zur Schau tragen.«
»Ach, hör doch auf mit dem Quatsch. Reich ist reich, egal ob alt oder neu.«
So waren sie eben, die neuen Geschäftsleute mit ihren Diplomen von amerikanischen Unis. Für sie gab es im Leben nur winner und loser , und der Maßstab dafür war das Geld. Nun wusste ich auf einmal genau, warum ich zuvor nicht über Max und seine Erlebnisse hatte sprechen wollen. Tarık hätte nichts davon begriffen, denn jene Welt war ihm völlig fremd.
Ich wandte mich ab und sah zum Bosporus hinunter. Jene drei Frauen spukten mir wieder im Kopf herum. Es kam mir vor, als ob sie sich kannten und miteinander sprachen. Nadja war plötzlich bei dem Blauen Regiment dabei und sprang zusammen mit meiner armenischen Großmutter in den Kızılçakçak-See. Und meine tatarische Großmutter war an Bord der Struma . Drei verschiedene Frauen, die drei verschiedenen Religionen angehörten und doch das gleiche Schicksal teilten.
In der Schule war uns ein Ausspruch des arabischen Historikers Ibn Chaldun beigebracht worden: »Geographie ist Schicksal.« Das Schicksal jener drei Frauen war davon bestimmt worden, wo und wann sie geboren worden waren.
Der Besuch bei Tarık hatte mir trotz allem Erleichterung verschafft, denn alleine hätte ich die Last der Vergangenheit nichtmehr ausgehalten. Egoistischerweise hatte ich mir vorgestellt, dass es mir guttun würde, das Interesse dieses jungen Mannes für mich zu spüren und ein wenig an seiner materialistischen, fröhlichen Welt zu schnuppern. Und genauso war es gekommen. Und dann hatte ich auch noch erfahren, dass ich zu Geld gekommen war. Was wollte ich mehr?
Ach ja, das mit dem Attest. Tarıks Bruder war Frauenarzt, ob der mich wohl eine Woche krankschreiben könnte? Kein Problem, meinte Tarık, das Attest würde er morgen von seinem Fahrer zur Uni bringen lassen. Dann bestand er noch darauf, mich nach Hause zu fahren.
Aus Kerems Zimmer drang noch ein Lichtschein. Ich atmete tief durch. Der auf mir lastende Druck hatte erheblich nachgelassen.
Was wohl Max gerade machte? Vermutlich schlief er, denn er hatte ja auch fast die ganze Nacht durchwacht.
Da ich tagsüber geschlafen hatte, war ich nicht müde. So machte ich den Laptop an und las Artikel über Mimesis . Sie waren alle voll des Lobes über das Buch und priesen es als einen Meilenstein der Literaturkritik. Zuvor hatte Auerbach ein Werk über Dante verfasst, über das ich nun auch etwas las.
Wie Max schon gesagt hatte, konnte es eine Lebensaufgabe für mich werden, die Bücher Auerbachs ins Türkische zu übersetzen. Und die Geschichte der Struma zu erzählen. Und die unbekannte Tragödie des Blauen Regiments an die Öffentlichkeit zu bringen. Sollte ich mein Leben von nun an danach ausrichten und dazu meine Zeit nützen? Schon allein dadurch, dass ich mir diese Fragen stellte, wich meine innere Leere ein wenig. Ich brauchte ein Ziel.
Am besten, ich schrieb als Erstes nieder, was der Professor mir erzählt hatte, die Geschichte von Maximilian und Nadja. Ich drückte auf den Knopf des Aufnahmegeräts, und nicht mehr das rote Licht leuchtete nun, sondern das grüne.
Die Geschichte von Maximilian und Nadja
Im Jahr 1934 ging in München ein großer, schlanker, junger Assistent im Garten der juristischen Fakultät mit entschlossenen Schritten auf eine Gruppe von Leuten zu. Er trug wie immer einen tadellos sitzenden Anzug, der seine
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