Serial
noch ein wenig unterhalten könnten.«
Er lächelte, schob ihr den Stapel Bücher zu und entgegnete: » Das würde mich zwar auch sehr freuen, Lucy, aber ich sitze bereits in knapp zwei Stunden im Flugzeug und fliege weiter nach North Carolina.«
» Oh.«
» Sehr schön, deine Bekanntschaft gemacht zu haben«, schloss er.
Lucy nahm den Stapel und verließ den Raum. Sie hätte heulen können, wenn es nicht etwas gegeben hätte, auf das sie sich gefreut hätte.
» Was halten Sie von ihr?«, fragte Lucy.
» Nein, die kenne ich«, meinte Orson. » Die ist eine mehr oder weniger bekannte Schriftstellerin gefühlsduseliger Literatur. Die würde sich nie richtig auf das einlassen, was sie erwarten würde.«
Lucy saß zwischen Orson und Luther auf einem Sofa am Rand der Hotelbar. Auf ihrem Schoß lag die aufgeschlagene Broschüre der Tagung, in der jeder angemeldete Autor zusammen mit einer Kurzbiografie abgebildet war. Das erleichterte die Suche ungemein.
» Ich habe da einen Kandidaten«, meldete sich Luther zu Wort.
» Wen?«
» Der Typ, der am Ende der Bar steht, ganz allein. Der hat niemanden, mit dem er reden kann.«
» Alles klar. Kannst du sein Namensschild von hier aus erkennen?«
» Nein. Ist zu weit weg.« Luther stand auf und arbeitete sich durch die Menschenmenge, um wenige Meter an dem potentiellen Opfer vorbeizuschlendern. Dann machte er sich auf den Rückweg, setzte sich wieder auf das Sofa und sagte: » Richard Bryson.«
Lucy blätterte sich durch die Broschüre, bis sie das Bild des Mannes und die dazugehörige Kurzbiografie gefunden hatte. Sie las vor: » Richard Bryson ist nicht nur Autor von Gegen das Gesetz, einem Krimi über korrupte Polizeibeamte, sondern auch dessen Herausgeber. Im Augenblick arbeitet er an einem neuen Buch.«
» Perfekt«, meinte Orson. » Luther, mach dich schon mal auf den Weg. Wir stoßen in zehn Minuten zu dir.«
Orson und Lucy blieben noch etwas sitzen, nachdem Luther sie verlassen hatte, und beobachteten Bryson, der einsam an seinem Bier nippte.
» Alles klar, Lucy. Jetzt erklär mir, wie du diesen Typen, den wir noch nie zuvor in unserem Leben getroffen haben, in das Hotelzimmer locken würdest.«
» Ich würde ihm von einer Party da oben erzählen und erklären, dass er herzlich eingeladen ist.«
» Okay. Würdest du mitkommen, wenn dich ein Wildfremder auf eine Party einlädt?«
» Keine Ahnung.«
» Die Antwortet lautet eindeutig Nein. Das würdest du nie im Leben machen. Jetzt pass auf und hör mir zu. Du bist klein, jung und kannst niemanden körperlich überwältigen. Wenn du das also immer und immer wieder tun willst, ohne dabei erwischt oder getötet zu werden, musst du Grips haben.«
Lucy rollte mit den Augen. Er hörte sich irgendwie wie ihre Mutter an.
» Oh, langweile ich dich etwa? Dann kannst du auf der Stelle verschwinden, du verdammte Rotzgöre.«
» Nein, Sie langweilen mich nicht. Entschuldigung.«
» Ich versuche nur, dir zu helfen. Und jetzt noch mal: Wie würdest du Bryson in das Hotelzimmer locken?«
» Weiß ich nicht.«
» Willst du etwas lernen?«
» Klar.«
» Eitelkeit. Weißt du, was das ist?«
Sie nickte. » Wenn man in sich selbst verliebt ist.«
» Genau. Und wir sind alle in uns selbst verliebt. Das ist unsere Schwäche, unser großer Fehler. Wenn du damit umgehen kannst und es schaffst, jemandem zu schmeicheln, ohne dass er es merkt, stehen dir sämtliche Türen offen. Du kannst tun und lassen, was du willst.«
» Das verstehe ich nicht.«
Orson richtete sich auf. » Komm mit, halt den Mund, mach die Augen auf und lerne.«
Sie folgte Orson durch die Menge und stand hinter ihm, als er sich mit den Ellenbogen auf die Bar stützte und darauf wartete, dass der Barkeeper ihn bediente.
Nach ungefähr einer Minute sah sich Orson um. Als sein Blick auf Richard Bryson direkt neben ihm fiel, sah Lucy, wie er ein breites Grinsen aufsetzte.
» Herr im Himmel, Sie sind Richard Bryson!«, rief er.
Als der Mann Orson anschaute, sah Lucy ihn zum ersten Mal genauer. Er kam ihr unglaublich alt vor, mindestens fünfzig Jahre alt. Sein zerzaustes blondes Haar, das kurz vor dem Ergrauen stand, war lang, und er trug– wie Lucy fand– einen fürchterlichen Schnurrbart.
Der Mann schenkte Orson ein skeptisches Lächeln, das über seine Unsicherheit hinwegtäuschen sollte, und sagte: » Äh, ja. Und wer sind Sie?«
» Zuallererst bin ich ein großer Fan von Gegen das Gesetz, dem vermutlich besten Buch, das ich dieses Jahr in
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