Serum
ums Talent. Die Hautfarbe war ihm völlig egal, aber er glaubte daran, dass man talentierte Leute machen lassen soll. Er hasste den Gedanken, dass seine geliebte Elite von Gesetzen eingeschränkt werden sollte. Er meinte, Amerika würde langsam verdummen, und unsere besten Politiker kümmerten sich nur noch um den Mob. Einmal gab er mir Kurt Vonnegut zu lesen, ›Willkommen im Affenhaus‹. Kennen Sie es?«
»Nein.« Der Hund drehte den Kopf und sah zwischen mir und Gabrielle hin und her, als wollte er die Geschichte auch hören. Dann lenkte ihn der Duft ab, der aus einem Feinkostladen drang.
»Es ist eine Science-Fiction-Geschichte. Über eine Gesellschaft, die so organisiert ist, dass der Durchschnittsmensch sich nie unterlegen fühlen muss. Ein großer Athlet, der schneller rennen konnte als andere Leute, musste beispielsweise Gewichte tragen, um langsamer zu werden. Sie nannten es Handicap-Gesetze. Jeder mit Talent wurde auf Durchschnittsmaß zurechtgestutzt.«
»Klingt langweilig.«
»Für meinen Vater war es die Hölle. Wie heißt es? Politik ist das Refugium der emotional Verkrüppelten? Dad schwadronierte immer über Quoten und Einschränkungen. Warum fragen Sie nach dem Hamilton Club?«
»Rein ins Blaue hinein«, sagte ich frustriert.
Wir gingen weiter, und ich erinnerte mich an Gelegenheiten, wenn Dwyer spät in der Nacht beim Scotch über Politik gesprochen hatte, während ich zufrieden danebensaß, glücklich, sein Vertrauter zu sein.
Jämmerlich. Am Ende war ich nicht einmal das gewesen.
Wir kamen wieder vor ihrer Tür an und verstummten. Ich gab mich ein paar Phantasien darüber hin, wie es weitergehen könnte. Der Tag war drückend heiß. Die Wohnung lockte kühl und einladend.
»Ich muss mein Flugzeug erreichen«, sagte ich.
»Und ich muss zur Schule.«
Aber keiner von uns bewegte sich. Sie hatte mich abermals überrascht.
»Lehrerin oder Schülerin?«, fragte ich.
Sie lachte. »Ich betreue ein Leseprogramm für lernschwache Schüler. Anscheinend bin ich das Gegenteil meines Vaters. Er hätte ihnen die Bücher weggenommen und das Geld an die Hochbegabten verteilt.«
»Das klingt extrem«, sagte ich.
»Extreme Persönlichkeiten können im persönlichen Umgang die nettesten Menschen sein. Und Sie wirken überrascht, dass ich arbeite. Dachten Sie, ich verbringe die ganze Zeit in Wellnesshotels?«
»Ich dachte immer, Lehrer müssten um acht in der Schule sein.«
Der Zopf hing ihr über die rechte Schulter, und auf ihrer Oberlippe stand ein dünner Schweißfilm. Ich stellte mir vor, wie ihre langgliedrigen Finger, die jetzt die Hundeleine hielten, mich berührten.
»Ich bin keine richtige Lehrerin. Ich helfe nur aus, im Rahmen eines Sonderprogramms der Lesestiftung.«
Wieder lachte sie, offen und anziehend.
»Das bin ich. Ich finanziere das Programm. Ich bin das Programm.«
Unsere Unbeholfenheit erinnerte mich an das Ende eines ersten Rendezvous, wenn man unsicher ist, ob man das Mädchen küssen darf oder nicht. Man sollte meinen, dass man in den Vierzigern darüber hinaus ist.
Ha.
»Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann«, sagte ich, »rufen Sie mich an.«
»Wenn Sie vor Samstag von Ihrer Reise zurück sind«, meinte sie, »begleiten Sie mich doch zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung.«
Ich muss sie wohl seltsam angesehen haben, denn sie fügte hinzu: »Gilt das als schlechtes Benehmen, wenn man in Trauer ist? Gut, ursprünglich wollte ich nicht hin. Aber es ist eine besondere Veranstaltung, Mike. Zwei von Ihren Hauptverdächtigen werden da sein, und Sie hätten den Vorteil der Überraschung. Die würden dort nie mit Ihnen rechnen.«
»Ich habe keine Verdächtigen erwähnt.«
»Wie dumm von mir. Da muss ich Sie in Washington missverstanden haben, als Sie sagten, man habe Sie gewarnt, Ihre Nase nicht zu tief in diese Angelegenheit zu stecken.«
Ich stellte mir eine Wohltätigkeitsveranstaltung im Metropolitan-Museum vor oder auf einer der großen Jachten im Hafen. Die Spender dampfen an der Freiheitsstatue vorbei, mampfen Horsd’œuvres und setzen ihren Krakel unter Schecks für die Krebsforschung. Dann schreiben sie das Ganze von der Steuer ab.
Ich fragte: »Keating wird da sein?«
»Er ist der Star des Abends. Es ist wahrscheinlich das größte gesellschaftliche Ereignis des Sommers, das jährliche Chili-Wettkochen zwischen ihm und Schwadron. Etwa hundert der einflussreichsten Leute werden an Keatings Privatstrand herumlümmeln und ihr Chili mit Champagner und Bier
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