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Setz dich über alles weg

Setz dich über alles weg

Titel: Setz dich über alles weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Bard
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werde die Rezepte tippen und sie Ihnen mit der Post zuschicken. Denn der
Herr Doktor — er ist so lieb zu meinem Vater.«
    Inwieweit der Herr Doktor lieb sein
konnte, entzog sich meiner Beurteilung, aber ich war inzwischen so hungrig
geworden, daß mir ganz schwach wurde. Ich fragte Mamma Fia, ob sie gesehen
habe, nach welcher Richtung Jim und Guido sich entfernt hätten.
    »Die Babies — Guido zeigt ihm die
Babies.« Sie deutete auf einen sonnigen Platz, den dunkle Kiefern umstanden.
Dicke, wunderbare, schwarzäugige Babies saßen, krochen oder lagen zu Dutzenden
auf einer riesigen Matratze, die aus Decken zusammengefügt war. Jim saß mitten
unter ihnen und warf ein krähendes, glucksendes Baby hoch in die Luft. Die
aufsichthabenden Mütter lachten befriedigt und nickten beifällig. Sie erwiesen
Jim die Höflichkeit, ihn um Rat zu fragen. Mit ernster Miene untersuchte er ein
dickes Kind, bewunderte es überschwenglich und schob es beiseite, um sich das
nächste vorzunehmen. Die kleine Beule, der leichte Ausschlag, das Muttermal —
alles wurde ihm gezeigt. Und als er der strahlenden Mutter das Baby zurückgab,
drückte sie das Bündel an die Brust und lachte ihm zu.
    Er blickte auf und sah mich, »Komm her,
hier ist es viel lustiger!« Er reichte mir ein dickes Baby mit Grübchen und
spielte mit den anderen weiter, völlig in sein Tun versunken. Es war das
erstemal, daß ich Jim mit kleinen Kindern beisammen sah, und ich wunderte mich,
daß er nicht Kinderarzt geworden ist.
    Guido kam gelaufen. »Das Essen ist
fertig.« Zu Jim: »Sie sollen rechts neben Mamma Fia sitzen.« Dann zu mir:
»Onkel Giovanni möchte, daß Sie als Ehrengast an seiner rechten Seite sitzen.«
Wir überließen es den Müttern, die schläfrigen Babies trockenzulegen und zu
füttern, und begaben uns zu Tisch.
    Das Essen war unbeschreiblich gut. Was
für Spaghetti! Was für Saucen! Mamma Fias Ravioli waren mit Recht berühmt. Der
knusprige grüne Salat schwamm in Olivenöl und Anchovis. Das gegrillte Brathuhn,
das auf dem Jahrmarkt der Impruneta in Florenz gegessen wird, war fast noch
besser als das Hühnersautee à l’Aretina, das Maria Di Julio — Guidos Mutter —
zubereitet hatte.
    Das war kein improvisierter
Picknickimbiß, sondern ein richtiges Festbankett, in dessen Verlauf auf den
Herrn Doktor, auf die verschiedenen Gebiete Italiens, aus denen die Gerichte
herstammten und auf die errötenden schwarzäugigen Köchinnen getrunken wurde.
Als die Nachspeisen auf den Tisch kamen, beugte sich Jim vor und flüsterte
Maria etwas zu — sie warf aber nur den Kopf zurück, lachte und sagte: »Heute
wird gefeiert — heute wollen wir die Bissen nicht auf die Waage legen!« Mamma
Fia überschüttete Jim mit einem streitlustigen italienischen Wortschwall, und
alles fing zu kichern an. Onkel Giovanni, ein wohlhabender und erfolgreicher
Müllabfuhrunternehmer, begann sich sogleich mit Jim über ›die Stiche hier
drinnen‹ zu unterhalten; das war als eine besondere Schmeichelei gedacht. Er
wußte, genau wie Jim, daß kein Giovanni auf die Idee kommen würde, einen anderen
Arzt als Dr. Rinaldi zu konsultieren — und daß er sich alle Mühe gab, die
ärztlichen Ratschläge, die Jim Maria erteilte, zu hintertreiben; aber er war
Italiener und daher ein charmanter und rücksichtsvoller Wirt. Er saß an Marias
anderer Seite und forderte sie lachend auf, soviel wie nur möglich von den
verbotenen Speisen zu essen. »Der Herr Doktor ist ja da — wenn dir schlecht
wird — kann er dich gleich verarzten. Die Figliata wird dir nicht schaden.«
    Von allen Seiten wurde Maria Di Julio
zugesetzt, sie solle die Zuckerkrankheit ignorieren und so tun, als ob sie im
geliebten Italien wäre, wo alles so schön ist und alle so glücklich sind und
kein Mensch je krank wird. Der einzige, der sich dagegen wehrte, war Guido —
ganz allein. Er ging in die fünfte Klasse und bekam Hygieneunterricht. Er
wußte, was Sauberkeit bedeutet, was Krankheitskeime, Vitamine und eine
ausgeglichene Kost für eine Rolle spielen. Und nun trug er die ganze
Verantwortung für die Diabetesdiät seiner Mutter. Um die verführerischen Locktöne
der Ungläubigen zu bekämpfen, drohte er ihr, falls sie Süßigkeiten äße, mit dem
›kleinen Tod‹.
    Gegen elf, nachdem viel getanzt und
gesungen worden war, packte man die schläfrigen Babies und Kinder in die Autos,
und das Picknick war vorbei.
    »Ich werde wohl auf dem Rückweg zu den
Di Julios hineinschauen«, sagte Jim, während wir

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