Seuchenschiff
sich um die gesamte Außenmauer zog.
Kyle befand sich noch immer in seinem künstlich erzeugten Tiefschlaf, während Max seinen Rollstuhl durch den prächtigen Eingang schob. Doch er erkannte an der Art und Weise, wie sein Sohn sich zu rühren begann und unverständliche Silben murmelte, dass es nicht mehr als ein oder zwei Stunden dauern würde, bis er aufwachte.
»Hallo«, rief jemand aus der Suite.
»Hallo«, antwortete Max. »Dr. Jenner?«
»Ja, ich bin’s.«
Jenner kam aus dem Zimmer ins Foyer. Er war mit einem anthrazitfarbenen Anzug mit feinen Nadelstreifen und einem weißen Seidenpulli bekleidet. Max bemerkte außerdem, dass er dünne Lederhandschuhe trug und seine Hände unnatürlich verkrümmt wirkten.
Max konnte das Alter des Psychiaters nicht einschätzen. Er hatte volles Haar, durchsetzt mit einigen grauen Strähnen, und ein sonnengebräuntes Gesicht, das aussah, als ob es schönheitschirurgischen Eingriffen unterzogen worden war. An Augen und Mund waren winzige Falten zu erkennen, jedoch schienen sie mit Hilfe eines Skalpells geglättet worden zu sein. Mit dem, was Jenner für seine Deprogrammierungsdienste berechnete, konnte er sich gewiss die besten Schönheitschirurgen der Welt leisten, aber sein Gesicht zeigte dennoch jenen starräugig erschrockenen Ausdruck eines Rehs im Scheinwerferlicht eines auf nächtlicher Straße heranrasenden Autos, der gewöhnlich eine Folge schlampig durchgeführter kosmetischer Korrekturen ist.
Es war nur eine geringfügige Ungereimtheit, aber Max war dennoch überrascht. Er streckte die Hand aus. »Max Hanley.«
Jenner hob abwehrend seine behandschuhten Hände. »Nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich Ihre Begrüßung nicht erwidere. Aber meine Hände haben bei einem Verkehrsunfall in meiner Jugend schwere Verbrennungen erlitten.«
»Oh, tut mir leid. Kein Problem. Das ist Eddie Seng. Er kommt von der Firma, die meinen Sohn gerettet hat. Und das ist Kyle.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Doktor«, sagte Eddie. »Entschuldigen Sie, dass wir Ihnen den Namen des Hotels nicht nennen konnten, ehe Sie in Rom eintrafen. Es geschah aus Gründen der Sicherheit.«
»Das verstehe ich sehr gut.« Jenner geleitete sie in eins der Zimmer seiner Suite. Sie legten Kyle, der ein Krankenhausnachthemd trug, in ein großes Pfostenbett und zogen dessen Vorhänge zu. Max strich mit dem Handrücken über die Wange seines Sohns. Der Ausdruck seiner Augen entsprach einer Mischung aus Liebe, Schmerz, Hoffnungslosigkeit und schlechtem Gewissen.
»Wir holen ihn zurück«, versprach Adam Jenner, der Max’ Gesichtsausdruck im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit sicherlich bei zahllosen Eltern gesehen hatte. Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück. Die Balkontüren standen offen, so dass der Lärm des berüchtigten römischen Abendverkehrs als allgegenwärtiges Hintergrundrauschen hereindrang. Über das Dach des gegenüberstehenden Apartmenthauses hinweg konnten sie die aufragenden Travertinmauern und Bögen des berühmtesten Bauwerks der Stadt erkennen. Mit seinen Sitzplätzen für fast fünfzigtausend Besucher war das Kolosseum so groß wie eine Sportarena moderner Zeitrechnung.
»Ich nehme an, alles ist glatt gegangen«, sagte Jenner. Er hatte einen Akzent, den Max nicht einordnen konnte. Er klang fast so, als sei er von Eltern aufgezogen worden, die kein Englisch sprachen.
»Das ist es leider nicht«, erwiderte Max.
»Tatsächlich? Was ist passiert?«
Die Augen auch, dachte Max. Irgendwie irritierten sie ihn. Hinter Jenners extravaganter Brille wirkten seine braunen Augen ausgesprochen seltsam. Gewöhnlich konnte Max den Ausdruck in den Augen seiner Gesprächspartner in Sekundenschnelle deuten und wusste, mit was für einem Menschen er es jeweils zu tun hatte, aber bei Jenner erkannte er überhaupt nichts.
»Die Responsivisten schützen sich mittlerweile mit bewaffnetem Wachpersonal«, sagte Eddie, als Max keinerlei Anstalten machte, die Frage des Deprogrammierers zu beantworten.
Jenner ließ sich seufzend auf ein Plüschsofa sinken. »Ich hatte immer befürchtet, dass es eines Tages so weit kommen würde. Thom und Heidi Severance haben sich in den letzten Jahren zunehmend paranoid verhalten. Ich denke, es war wohl nicht zu verhindern, dass sie sich eines Tages bewaffnen würden. Das tut mir aufrichtig leid. Ich hätte Sie über meine Befürchtungen informieren müssen.«
Eddie wischte Jenners Besorgnis mit einer Handbewegung beiseite. »Von uns wurde niemand verletzt, daher
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