Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
Schwester ins Vertrauen. Es gelang Faiza, vier Monate bei ihrer Familie zu bleiben, bis sich ihr Zustand nicht länger verheimlichen ließ – da gab die Mutter ihr Geld, um nach Casablanca zu fahren und den Vater ihres Kindes zu suchen. Eines frühen Morgens schlich sie sich aus dem Haus und ließ die Männer ihrer Familie buchstäblich und metaphorisch im Dunkeln zurück. »Mein Vater wusste von nichts; ich fürchtete, dass er mir etwas antun würde. Er könnte mich schlagen, er könnte mich umbringen … auch meine Brüder könnten dies tun«, sagte sie.
Faiza gelang es nicht, den Vater ihres Kindes ausfindig zu machen, aber sie hörte von einem Krankenhaus, das sie in Kontakt mit INSAF (Institution Nationale de Solidarité avec les Femmes en Détresse; Nationales Institut der Solidarität mit Frauen in Not) bringen könnte, einer NGO, die unverheirateten Müttern während der Schwangerschaft, der Entbindung und der frühen Mutterschaft hilft. Aber um zum INSAF zu gelangen, musste sie ein weiteres Martyrium durchstehen. »Vor dem Krankenhaus stand ein Wachmann. Er sagte, er kennt die Telefonnummer von INSAF. Er nahm meine Tasche, und ich folgte ihm [zu einem Gebäude um die Ecke des Krankenhauses]. Ich hatte ein ungutes Gefühl, ich fürchtete mich ein bisschen, und in diesem Moment stieß er mich in einen Raum und verschloss die Tür«, sagte mir Faiza mit erstaunlich fester Stimme, wenn man bedenkt, was nun folgte. »Eine Stunde lang versuchte er mich zu vergewaltigen … Er zeigte mir Nacktfotos von sich; er zeigte mir Bilder – Mädchen aus Agadir, die Sex hatten. 55 Das alles, um mit mir zu schlafen. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, ich hatte Angst um mein Baby. Er küsste mich. Ich schlug ihn, wirklich, ich habe ihn geschlagen, und daraufhin gab er mir eine Ohrfeige. Rühr mich nicht an, denn ich bin noch Jungfrau. Er schlug mich mit einem Gürtel … Er sagte: ›Ich bring dich um und steck dich in die Mülltonne‹«, erinnerte sie sich. »An dem Tag, an dem ich entband, musste ich an ihn denken. Ich konnte ihn nicht vergessen, ich hatte mich noch nie so gefürchtet.«
Glücklicherweise gelang es Faiza zu fliehen, ohne dass sie ihre kostbare Jungfräulichkeit verlor. Von da an ging alles relativ glatt. Sie setzte sich mit INSAF in Verbindung, die sich bis zum Ende der komplikationslos verlaufenden Schwangerschaft und Entbindung um sie kümmerte; ein paar Monate später fand sie einen Platz bei Solidarité Féminine (SolFem), einer marokkanischen NGO, die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, feste Bindungen zwischen unverheirateten Müttern und ihren Kindern aufzubauen und sie in die Gesellschaft zu integrieren.
SolFem hat ständig etwa fünfzig Frauen und deren Kinder unter ihren Fittichen, in einem dreijährigen Programm und an drei verschiedenen Standorten in Casablanca. Für viele Nutznießerinnen von SolFem beginnt dieses Programm hinter weißgetünchten Mauern in einem Industrieviertel namens Ain Sebaa. Draußen lärmt dichter Verkehr, und Reihen wettergegerbter Männer suchen nach Arbeit; hinter dem Tor liegt ein hübscher Innenhof mit Palmen und farbenprächtigen Blumenbeeten. An einer Seite dieses Zufluchtsortes befindet sich eine Kinderkrippe, wo etwa ein Dutzend Kleinkinder spielt, und Säuglinge liegen dösend in Kinderbetten; auf der anderen Seite befindet sich eine Küche, in der junge Frauen sich beim Kochen tüchtig ins Zeug legen, Haufen von Gemüse kleinschneiden und kleinen Holzkohlerosten Luft zufächeln, auf denen irdene Tajines köcheln. Gegen Mittag füllen sich der Garten und der Speisesaal mit jungen Geschäftsleuten in Hemdsärmeln und Krawatten und mit Frauen mittleren Alters, die Köpfe ordentlich von Hijabs bedeckt, mit Kindern im Schlepptau. Sie kommen wegen des Essens, und das ist nicht verwunderlich: Meine Lamm- und Karottenschmorpfanne mit würziger Aubergine als Beilage war köstlich.
Die Einrichtung in Ain Sebaa ist sowohl ein Restaurant als auch ein Zentrum zur sozialen Wiedereingliederung. Unverheiratete Mütter sollen hier eine Reihe marktgerechter Fertigkeiten erwerben, mit deren Hilfe sie sich ein neues Leben aufbauen können. Es bleibt viel zu tun. Die Frauen, die hier anfangen, gehören zu den verletzlichsten Nutznießern von SolFem. Sie sind jung, überwiegend im späten Teenageralter, und stammen aus armen ländlichen Familien. Viele sind Analphabetinnen und haben als Hausmädchen ( bonnes ) gearbeitet, nachdem sie wohlhabenderen Familien für Kinderarbeit
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