Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
leistete erbitterten Widerstand gegen die Reform, aber mit Unterstützung von König Mohammed VI. wurde das Gesetz verabschiedet, das – zumindest auf dem Papier – einen Trend zu mehr Rechten für Frauen etablierte. Damals wurde Ech-Chenna von Islamisten heftig angefeindet; nach deren Meinung leistete ihre Unterstützung dieser frauenfreundlichen Reformen zina Vorschub. Aber wie bei den meisten Dingen, die sich ihr in den Weg stellen, hatte Ech-Chenna auch für ihre islamischen Gegner eine Antwort parat. »Ich bin die Enkeltochter eines Religionsgelehrten. Er pflegte zu meiner Tante zu sagen: ›Du darfst niemals ‚Kind der Sünde‘ sagen.‹ Jemand, der eine Sünde begeht, eine Sünde des Geistes oder des Körpers, ist ein Erwachsener, der einer anderen Person Schaden zufügt. Ich als praktizierende Muslima liebe Gott und respektiere ihn. Es ist nicht meine Aufgabe, moralische Urteile zu fällen. Nur Gott kann urteilen.«
Ech-Chenna ist alt genug, um sich daran zu erinnern, auf welche Weise diese Angelegenheiten in Marokko wie in Ägypten geregelt wurden: Uneheliche Kinder wurden nahtlos in die Großfamilie aufgenommen oder diskret vor der Haustür eines Nachbarn abgelegt, in der Erwartung, er werde das Kind als ein Geschenk Gottes annehmen. »Unsere Großmütter entwickelten vor langer Zeit, wie alle eingesperrten Frauen, eine gewisse Intelligenz. Weil sie das Haus nicht verlassen durften, entwickelten sie eine sozusagen häusliche Intelligenz, um mit ihren Problemen in einer diskreten Weise klarzukommen.« Aber all dies änderte sich mit der Unabhängigkeit Marokkos im Jahr 1956, mit der »gesellschaftlichen Explosion«, wie Ech-Chenna sagt: rasante Urbanisierung, ökonomische Wirren und Zerrüttung der Familie. Sex, ehedem ein natürlicher Teil des Lebens, wurde unter den Teppich gekehrt. »Nichts ist so schändlich, dass man es nicht in einem religiösen Rahmen besprechen könnte, hieß es in der Koranschule. Selbst in der Familie sprach man zumindest über Menstruation – mit der Mutter, der Tante oder einer Cousine«, erinnert sich Ech-Chenna. »Seit der ›Explosion‹ wissen Frauen, die sich an unsere Organisation wenden, nicht einmal mehr, was Sexualität ist. Selbst wenn sie ihre erste Periode haben, wissen sie nicht, was vor sich geht, während diese Dinge in unseren Gesellschaften vor langer Zeit völlig normal waren.«
Ech-Chenna ist fest davon überzeugt, dass SolFem ein erfolgversprechendes Modell auch für andere arabische Länder einschließlich Ägypten ist. Ihr Rat ist einfach: Klein anfangen, diskret bleiben und sich aus der Politik heraushalten. Am wichtigsten aber ist die Auswahl der richtigen Führungskräfte; ihrer Meinung nach ist ein aufgeblähtes Ego eindeutig kontraproduktiv: »Es ist eine Arbeit, die eine Menge Geduld und Selbstverleugnung erfordert. Wenn man ein Star werden will, sollte man bei einem Fernseh-Talentwettbewerb singen. In der Zivilgesellschaft sollte es einem nicht darum gehen, ein Star zu werden; wenn man hier zu einem Star wird, dann weil die Menschen einen anerkennen, wegen der Arbeit, die man leistet.«
Diese Arbeit ist keineswegs getan. Auch wenn die Gesellschaft heute vielleicht etwas mehr Verständnis für die Not unverheirateter Mütter in Marokko aufbringt, bedeutet dies noch lange nicht, dass diese Frauen gesellschaftlich akzeptiert wären. SolFem achtet sorgfältig darauf, die von ihr betreuten Frauen als unschuldige Opfer sexueller »Unfälle« darzustellen; ganz allgemein sträubt sich die marokkanische Gesellschaft bis heute, das Recht einer Frau auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung anzuerkennen – das heißt, ihr die Freiheit einzuräumen, selbst über ihre Sexualität und ihr Fortpflanzungsverhalten zu entscheiden. 60 »Wir sind nicht auf alle Probleme alleinerziehender Mütter eingegangen«, sagte mir Ech-Chenna. »Es gibt eine Menge ausgesetzter Kinder, überall. Wenn die Gesellschaft schon vollständig entwickelt wäre, gäbe es keine ausgesetzten Kinder. Es wird zwei oder drei Generationen dauern, dieses Problem zu lösen, und diejenigen, die daran arbeiten, müssen dies in einer transparenten und demütigen Art und Weise tun.« Sie vergleicht die Geschwindigkeit der gesellschaftlichen und rechtlichen Veränderungen in Marokko seit der Unabhängigkeit mit Wasser in der Wüste. »Wofür der Westen zweihundert Jahre brauchte, das haben wir in fünfzig Jahren vollbracht. Es ist wie ein ausgedörrtes Land, das nicht von den
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