Sex und Folter in der Kirche
ihr Abendmahl einnehmen, Mon-
stranzen beweihräuchern, Reliquien verehren, Kindergärten be-
treuen? Verstummen, wenn Kleriker die Inhalte ihrer Moral, auf diesem blutigen Hintergrund, als höchste Werte preisen?3 Schweigen, sooft sie, infamer noch, Lob für ihre »Wertorientierung«
einsacken? Ihre vorgebliche Wegweisung von Wahlkämpfern rüh-
men lassen?4 Wer schon von christlich-abendländischen Werten
spricht, ist unehrlich, sooft er Wesensmerkmale dieser Kultur ver-schweigt. Also immer.
Legende von der Moral der Besten
Der englische Philosoph Bertrand Russell dachte ehrlicher als jeder Jünger. Er begründete, warum er kein Christ sein konnte: »Das ist der Grundgedanke: daß wir alle schlecht wären, hielten wir uns nicht an die christliche Religion. Mir scheint, daß der größte Teil der Menschen, der sich daran gehalten hatte, außerordentlich
schlecht war. Es ergibt sich die seltsame Tatsache, daß die Grausamkeit um so größer und die allgemeine Lage um so schlimmer
waren, je stärker die Religion einer Zeit und je fester der dogmati-sche Glaube war. In den sogenannten Epochen des Glaubens, als die Menschen an die christliche Religion in ihrer vollen Ganzheit wirklich glaubten, gab es die Inquisition mit ihren Foltern, wurden 193
Millionen unglückseliger Frauen als Hexen verbrannt und im Namen der Religion an unzähligen Menschen alle erdenklichen Grausamkeiten verübt.«5
An einem einzigen Tag des Jahres 1232 sollen um die hundert
Menschen in Straßburg den christlichen Scheiterhaufen übergeben worden sein.6 Der schwedische Kinderprozeß von 1669 akzeptierte die Denunziation von Unmündigen, weil nach dem Zeugnis der
Bibel aus dem Mund von Kindern Wahrheit kommt. Er kostete
aufgrund dieser Beschuldigungen nicht nur siebzig Frauen und
fünfzehn Kinder das Leben,7 sondern zog auch viele andere Prozesse im ganzen Land nach sich. Nur herzlose Historiker meinen über Zahlenangaben räsonieren zu dürfen, nur kalte Dogmatiker können glauben, daß alles Gott ehrt, was eine Schande für die Menschheit ist.8 Und nur bewußt fehlinformierte oder arrogant fröhliche Christen dürfen noch der Meinung sein, die Dogmen ihres Glaubens seien im luftleeren Raum entstanden. Das unheilbar gesunde Christengewissen, die Pausbäckigkeit der Jünger! Als habe nicht jeder Glaubenssatz seine Blutgeschichte! Ist dagegen bekannt geworden, daß Aufklärer ihre Sätze mit Gewalt durchsetzten oder die Vorkämpfer der Menschenrechte für jede einzelne ihrer Forderungen das Blut von Andersdenkenden vergossen?
Fassungslos freilich das Erstaunen vieler Katholikinnen, daß
jemand auch außerhalb ihres Einflusses leben kann und gut dabei gedeiht. Sie hegen die — rührende oder dreiste?9 — Erwartung, ein Mensch habe nur bei ihren Grundsätzen anzufangen, mit ihren
Voraussetzungen, mit ihren sittlichen Forderungen, um gut zu sein oder zu werden. Gewiß, für Jünger mögen diese praktikabel sein, für andere sind sie es nicht. Pierre Bayle: »Es ist keineswegs seltsamer, daß ein Atheist tugendhaft lebt, als es seltsam ist, daß ein Christ sich zu allerhand Verbrechen hinreißen läßt. Wenn wir Tag für Tag diese letztere Gruppe von Ungeheuern sehen, warum sollten wir glauben, das andere sei unmöglich?«10 Es bleibt eine Ten-denzlüge, daß Menschen, die kirchliche, christliche, religiöse Lehren und Praxen überwanden, moralisch unvollkommene Menschen
sind.11 Weder Christentum noch Kirche sind der Hort aller Moral; es gibt, auch wenn Bischöfe und Päpste das Gegenteil predigen, kein Monopol auf Ethik. Millionen Menschen verlieren kein Wort über die Kirchen, beschäftigen sich nicht mit der Christenheit, sondern leben bewußt oder unbewußt an den vielen Christentümern, an
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deren Sekten und Kirchen vorbei — und tun recht daran.
Friedrich der Große am 3. April 1753 an seinen Bruder August
Wilhelm: »Wenn ich nicht zum Abendmahl gehe, so geschieht es, weil ich nicht auf dem Standpunkt des christlichen Glaubens stehe.
Ich finde ihn widersinnig und möchte um nichts auf der Welt die Fehler, die ich schon habe, durch das Laster der Heuchelei vermeh-ren; denn ich will niemanden täuschen, und man soll der Welt
zeigen, daß man ein Ehrenmann sein kann, ohne an die jungfräuliche Geburt und an das Wunder der Hostie zu glauben.«12
Sehen wir uns um, so stellen wir fest, vorausgesetzt, wir sind nicht blauäugig, einäugig, blind: Jeder Gewinn im menschlichen Gefühl, jede Verbesserung der Strafgesetze,
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