Sex und Folter in der Kirche
Und
zwar ganz gleichgültig, ob er an die reale Transsubstantiation von Hostie und Wein in Leib und Blut Christi glaubt oder ob er den Akt nur symbolisch begreift.«192 Der bloße Gedanke an den Genuß von Blut ist für den jüdischen Geschmack ein Greuel. Doch die Vorliebe der Christenheit für Blut und blutige Reliquien bleibt bestehen.
Wäre Jesus nicht den Märtyrertod gestorben, hätte es vielleicht keinen christlichen Kult um das Blut gegeben.193 Hier aber wird immanente Grausamkeit verheimlicht; Reliquien sind sichtbar und greifbar ihre Surrogate. Je stärker der Trieb nach Blut und Blutigem unterdrückt wird, desto intensiver werden seine Ersatzstücke verehrt. Und das Kreuz steigt zum bewährtesten Markenzeichen der Weltgeschichte auf.
Die christliche Tendenz zur selbstbestätigenden, defensiv legitimierenden wie offensiv gegen Andersdenkende gerichteten Aus-
schmückung eines Foltertodes fällt auf: Das heiligste Herz Jesu (mit seiner tiefen Wunde) ist ein päpstlich gefördertes Objekt der Jün-gerlnnen-Minne, und die Leichentücher194, die wahrscheinlich unhistorische Dornenkrone, die Nägel, die Geißeln, die Ketten, die Stichlanze von Golgotha und andere Folterwerkzeuge zogen wie
das Kreuz195 nicht nur in die vielen grausigen Bilder der Christenheit ein, sondern auch in die offizielle Verehrung, in den Glauben.196 Wer sich profilierte, empfing gar die Wundmale Christi.197
Die Stigmata des Franz von Assisi werden in einem Kirchenfest (17. September) verehrt.198
Allein an heiligen Kreuzesnägeln fanden sich zuzeiten siebenundzwanzig und an Dornen der Dornenkrone über achthundert. Im
päpstlichen Rom waren Folter- und Leidenswerkzeuge Mittel-
punkt einer eigenen Kirche. Diese, Santa Croce in Gerusalemme 186
(Heilig Kreuz zu Jerusalem), gehörte zu den sieben Pilgerkirchen, deren Besuch seit dem fünfzehnten Jahrhundert zur Erlangung
eines vollkommenen Ablasses vorgeschrieben ist.199 Sie ist voller Ausstellungsstücke des Blutglaubens, deren Echtheit heute niemand außer den Frömmsten bekennt: Splitter vom Kreuz »Jesu«,
ein Nagel, die Tafel mit der Inschrift: »Jesus von Nazareth, König der Juden« (Jo 19,19), etliche Dornen aus der Krone und auch der Finger, den der ungläubige Thomas in die Wundmale des Auferstandenen legte (Jo 20,27). All diese Gegenstände hatte die Kaiser-mutter Helena aufgefunden und nach Rom in ihren Palast ver-
bracht, über dem sich heute die vielbesuchte Kirche erhebt.200
In der Nähe befindet sich eines der Hauptziele der Rompilger, die Heilige Stiege. Sie ist der Legende nach aus den achtundzwanzig Stufen gebildet, über die »Jesus« den Palast des Pilatus verließ, um zur Schädelstätte Golgotha geführt zu werden. Der Brauch, sie kniend zu ersteigen, ist alt. Heute ist der Marmor durch eine Verschalung geschützt; er wäre sonst von den Millionen Frommen abgenutzt, die seit über vierhundert Jahren Tag für Tag hinaufklim-men. Am Abend des 19. September 1870, einen Tag vor dem Fall
seines Staates, erstieg Pius IX. letztmals auf den Knien die Treppe.201
Doch weder diese Übung noch sein Schießbefehl, der tags darauf viele Menschen das Leben kostete, rettete den Kirchenstaat.
Bald ist selbst Golgotha nicht Marter genug. Im »Leben Jesu«
werden andere Blutstücke gesucht. Die Jüngerinnen werden fündig.
Denn schon das Jesusknäblein war, wie Lukas berichtet (Lk 2,21), einem blutigen Ritual unterworfen: der Beschneidung. Der Jünger-Trieb gab sich nicht mit dem Wort zufrieden, sondern verlangte nach dem Objekt. In der Folgezeit findet sich ein Kult der vielfach vorhandenen und vielfach verehrten Vorhaut Jesu.202 Nicht nur im Mittelalter: Bischof Pie von Poitiers, ein heftiger Freund des Unfehl-barkeitsdogmas, erkannte noch 1858 eine solche Vorhaut als echt an. Dann rief er eine Lotterie ins Leben, um eine Kapelle für das heilige Teilchen erbauen zu können. Die Konkurrenz in Rom hatte vergleichsweise Pech: Die in der päpstlichen Hauptkirche des Late-rans verehrte Vorhaut war schon 1527 entwendet worden. Nicht so andere Vorhäute, die bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein verehrt wurden. Da sich jedoch Protestanten in das katholische Thema einmischten und tendenziöse Artikel veröffentlichten, ordnete der Vatikan 1900 an, es sei unter der Strafe des Kirchenbanns 187
verboten, über diese Reliquie zu sprechen oder zu schreiben; nicht einmal die regionale Fremdenverkehrswerbung durfte sich der Vorhaut des Jesusknaben annehmen.
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