Sex und Folter in der Kirche
daß es staatlichen und kirchlichen Obrigkeiten 220
über Jahrhunderte hinweg nicht gelang, ihre Auffassungen durchzusetzen.
Wenig andere »Verbrechen« wurden ähnlich geahndet und blu-
tig verfolgt wie das Hostiensakrileg; noch im geltenden Kirchenrecht ist die Entweihung einer Hostie mit der Höchststrafe bedroht.
Die Strafbestimmung erinnert bis in ihren Wortlaut hinein an vergangene Zeiten: »Wer die eucharistischen Gestalten wegwirft oder in sakrilegischer Absicht entwendet oder zurückbehält, zieht sich die dem Apostolischen Stuhl vorbehaltene Exkommunikation als
Tatstrafe zu...«179 Zwar wirken die gegenwärtigen Strafandro-
hungen nur mehr wenig bedrohlich, doch verbirgt sich hinter der sichtbaren Ohnmacht von heute die Gewalttat von gestern. Wer in früheren Jahrhunderten der Geschichte des Christentums Hostien wegwarf, entwendete oder zurückbehielt, war des Todes schuldig.
Das war keine leere Drohung. Die fürchterliche Verfolgung traf auch einzelne Christen: 1556 wurde ein Kleriker, der in einem Anfall von Wahnsinn eine Hostie in seine Wohnung verbracht, dort zerbrochen und zertreten hatte, nach öffentlicher Bußbitte vor dem entweihten Tabernakel auf einem Rost zum Hinrichtungsplatz in Rouen geschleift, an einen Pfahl gebunden und verbrannt; seine Asche zerstreute man in alle Winde.180
Die Inquisition kannte keine Hemmung; ihr Arm reichte bis ganz nach oben. Berühmt wurde der Prozeß gegen Bartolome Carranza, den Erzbischof von Toledo und Primas von Spanien.181 Dieser
Kardinal, Theologe des Konzils von Trient und persönlicher Ratgeber König Philipps II., wurde 1559 von der Inquisition wegen reformatorischer Lehre belangt, nicht weniger als vierzehnmal aufgrund Hunderter beanstandeter »Stellen« formell angeklagt und 1576 in Rom zu Klosterhaft verurteilt. Drei Wochen später starb er; er hatte mehr als siebzehn Jahre in Isolationshaft182 auf den Urteilsspruch gewartet. Sein Vermögen und seine Bibliothek waren sofort nach der Verhaftung eingezogen worden; die immensen Einkünfte seines Sitzes, hundertfünfzigtausend Goldstücke jährlich, flössen der Krone zu und wurden zur Finanzierung des Mammutprozesses
gegen ihn verwandt. Die Dokumentation des Falles umfaßt über
fünfzigtausend Seiten.
Doch Christen litten nie mehr oder auch nur gleich viel wie die Angehörigen jenes Volkes, das sich nach der Jünger-Lehre bereits gegen seinen Messias unbußfertig gezeigt hatte. »Jesu« Blut kam dem 221
Buchstaben und dem Geist des Matthäusevangeliums getreu
(Mt 27,25) »über uns und unsere Kinder«, über die Juden.183 Über die zwölf Stämme Israels würden zwar, so der wüsteste Jünger-Traum, die Erwählten »unseres Herrn« erst am letzten Tag zu
Gericht sitzen (Mt 19,28). Doch so lange wollten sie nicht warten: Von Juden grenzten Christen sich schon auf Erden ab. Beispiele aus Spanien nehmen die Maßnahmen Hitler-Deutschlands voraus:
Nachdem dem Mann auf der Straße erzählt worden war,184 daß er trotz seines Elends doch ein Edelmann sei, da er nicht nur den richtigen Glauben besitze, sondern auch keinen Tropfen jüdischen Bluts in sich und seinem Stammbaum trage, ging er fröhlich daran, es denen heimzuzahlen, die noch weiter unten als er angesiedelt wurden. Die Inquisition kann als Erfinderin gelten: Sie sorgte da-für, daß Kinder nicht nur bis ins dritte oder vierte Glied für die Sünden der Väter büßten, wie es sich ein Autor im Alten Testament ausgedacht hatte, sondern bis ins zehnte. Denn die spanische Glaubensbehörde kennzeichnete Ketzer durch eigene (gelbe) Schand-
kleider und Abzeichen185 und ersann die »limpieza de sangre«, die Reinblütigkeit, Möglichkeiten zu deren Nachweis und höchst unmenschliche Folgen.186 Zu Beginn ihrer Verfahren wurde festgestellt — durch Zeugenaussagen, aus Akten, aus weitläufigen Erkun-digungen —, wie groß der Prozentsatz jüdischen Blutes bei den Angeklagten war. Die Feststellung der Blutsreinheit ist nicht nur im Prozeß vorgeschrieben; sie wird auch für alle geistlichen und weltlichen Beamtenstellen verlangt. Noch mehr: Jeder Chorknabe und
jeder Marktaufseher hatte seine Ahnen nachzuweisen, damit auch kein Tropfen jüdischen Blutes in ihren Adern fließe...
Auslösende Faktoren für die Blutrache der Christen an jüdischen Mitbürgerinnen waren Legenden über den (rituellen) Blutdurst
sowie über die Schändung von Hostien durch jüdische Zeitgenossen. Märchen über Ritualmorde der Juden finden sich, in Form von
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