Sex und Folter in der Kirche
die
gegenwärtige Realität gibt Anlaß zur Genugtuung über die höchsten, letzten Werte, die eine christliche, kirchliche Jüngerschaft noch immer zu vertreten beansprucht. Denn was ist von einer
Sittlichkeit zu halten, die Hand in Hand mit Grausamkeit ging und erst einhielt, als sie von außen gehindert wurde, ihre Methoden fortzusetzen? Wie sollen wir eine Moral nennen, die zu ihrem
Gelingen und Überleben nicht nur ein ideologisches, sondern auch ein reales System von Strafen und Foltern voraussetzte? Die sich gegen jede Toleranz zur Wehr setzte226 und ein tolerantes Verhalten erst — als eigene Erfindung! — predigte, nachdem andere Menschen ihr die Folterwerkzeuge aus der Hand geschlagen hatten?
Liegen die Zeiten der Straffolter hinter uns? Ist das ideologische System überwunden? Welchen Stellenwert hat eine Moral, die primär aus Furcht vor einer Folterstrafe in der jenseitigen Hölle prakti-ziert wird? Was taugt eine Geistigkeit, deren Werk Teufel tun müssen, weil Menschen zu ihren Lebzeiten sich nicht beugten?
Welchen Wert weist jene unter Christen weitverbreitete Sittlichkeit auf, die sich der Verlockung durch himmlischen Lohn verdankt?
Welches Niveau unter Menschen erreicht eine Strafe, die mit Vergeltung und Rache begründet wird, den damit verwandten Schluß auf eine Wiederherstellung der Ehre des (beleidigten) Gottes inbegriffen? Braucht »unser Gott« Himmel und Hölle, um nicht nackt zu stehen? Benötigen Christen die Furcht für ihren Glauben?227
Solche Moral wirkt entschieden demoralisierend.
War die Moral, die sich bewußt der realen Folter verschrieb, je 228
weniger unsittlich? Waren die Jäger aller Zeiten nicht kränker als die Gejagten? Änderte sich seit dem Tod Jesu nicht alles zum
Schlimmen? Beispielsweise saß nach dem Passionsbericht der Evangelien selbst der Sohn Gottes nie auf einem jener schrecklichen Befragungsstühle, die in den christlich dominierten Jahrhunderten zur Grundausstattung jedes Inquisitors gehörten.228 Jesus brauchte nie Platz auf einem Sessel zu nehmen, der an der Rückenlehne, dem Sitz, den Armauflagen mit Hunderten von Eisenspitzen und Dornen besetzt war. Seine Peiniger hatten es nicht nötig, ihn auf einen Stuhl zu setzen, der durch eine Fackel oder Kohlenpfanne bis zur Unerträglichkeit erhitzt wurde. Solche Sitzgelegenheiten erfand erst die Jüngerschaft.
Jesus lag auf keiner Streckbank, er wurde nicht wie hunderttausend Opfer seiner späteren Gemeinde mit Hilfe einer Winde buch-stäblich um bis zu dreißig Zentimeter229 verlängert. Die römischen Söldner renkten seine Gelenke in Armen und Beinen nicht aus,
zerrissen seine Muskeln keineswegs kreuz und quer. Die Evangelien schildern vergleichsweise behutsam, was er ihrer Meinung nach erlitt. Ihre Konstruktionen eröffnen »Jesus« sogar die Möglichkeit, in gesetzten Worten auf die Fragen des Verhörs zu antworten.
Offenbar konnten sich die frühesten Jünger nicht im Traum ausmalen, was ihre Nachfolger praktizieren würden, um ein Geständnis zu erlangen, diese »Königin der Beweise«230, diese »begehrteste Frucht, die einem Richter (oder Polizisten) in den Schoß fallen
kann«231.
Wenn schon Vergleiche angestellt werden sollen: Der »Jesus« der Evangelisten war sich keiner Schuld bewußt; auch Pilatus kann keine an ihm finden (Jo 19,4). Können die Opfer christlichen Folterns und Mordens von sich nicht dasselbe sagen? In beiden Fällen kam es dennoch auf das Geständnis an: »Jesus« schweigt dazu (Lk 23,9), was ohne Folgen bleibt, oder er legt in geradezu herrscherlich anmutenden Worten und souveränen Sätzen ein Bekenntnis zu
seiner Person und zu seinem Auftrag ab (Lk 22,68-70), bevor er unschuldig hingerichtet wird. Und die unschuldigen Opfer des
Christenhasses? Ihnen ist weder ein Schweigen noch ein souveränes Sprechen erlaubt. Sie haben ihre Sünden zu gestehen, vor allem die in Gedanken geschehenen, häretischen. Oder sie müssen bekennen, daß sie Teufelsbuhlschaften oder sonstige Vergehen begingen, die zwar sexueller Natur waren, aber als häretisch verfolgt wurden.232
229
Mittlerweile hatte ja der Teufel endgültig die europäische Szene betreten, um sie bis zum Ende der Hexenverfolgungen im späten achtzehnten Jahrhundert nicht mehr zu verlassen.233 Woher dieser Teufel gekommen war, wer ihn in die Zivilisation Europas einführte und mit gräßlichsten Konsequenzen kulturell verankerte, bedarf keiner Untersuchung mehr.
Der Inquisitionsprozeß kennt sein Ziel: Die
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