Sex und Folter in der Kirche
gebeugte Haltung als die vor »unserem Gott« und seinen Hirten einzig aufrechte zu definieren lernten. Eine gute Portion Schuldbewußtsein gehört beim gutsituierten Christentum zum schlichten Wohlbefinden.
Niemandem steht es frei, Christ zu werden.118 Zum Christentum, 254
so Nietzsche119, wird man nicht bekehrt, man muß krank genug
dafür sein. Und eine gesunde Aggressivität mitbringen: »Wenn der Christ ein geistliches Lied singt«, schreibt Henry Miller, »klingt es, als ob er in den Krieg marschiere. Vorwärts, christliche Soldaten!
Wie geht es noch mal — ? Als ob er in den Krieg zöge. Warum als ob?
Sie führen immer Krieg — mit dem Säbel in einer Hand und dem
Kruzifix in der anderen.«120
Die Aggression zeigt sich zur Zeit nicht in Kriegsaufrufen wie noch vor Jahrzehnten, als Christenführer ausdrücklich zum Waf-fengang aufforderten.121 Damals konnte ein Pfarrer den Krieg als Gebot der Nächstenliebe verteidigen,122 ein anderer die in den Kirchen herrschende Mentalität am Beispiel des »Kriegers Jesus«
festmachen: Wer diesen zum Antinlilitaristen und Pazifisten mache, nehme ihm »das Herz aus der Brust und seinen Ehrenkranz
vom Haupt«123. Die Dornenkrone, das Foltermittel, der Kriegsorden, das Mörderabzeichen?
Doch ganz legte sich, wie selbstverständlich, die Drohung nicht, gegen andere mit Gewalt vorzugehen. Der Haß kommt per Post.
Beispiele nennt im Januar 1994 die Süddeutsche Zeitung, der die besten Deutschen, mittlerweile nicht mehr anonym, mitteilten, was sie als Christen von Nichtdeutschen halten, von den »Scheißtürken« und »Menschen-Säuen«124. Wie weit wir nach Solingen, Ro-
stock, Hoyerswerda auf dem Weg zurück zu einer bestimmten
christlich-abendländischen Kultur125 und zur Praxis früherer Jahrhunderte bereits sind, zeigt die Suche nach dem kleinstmöglichen gemeinsamen Nenner: Man muß schon wieder daran erinnern, daß
andere Menschen weder abgestochen noch verbrannt werden dür-
fen.
Macht die christliche US-Moral mobil, wie eben erst im Fall des Senators B. Packwood, dem unerwünschte Avancen vorgeworfen
werden,126 so könnte man meinen, die USA stünden am Rande
eines globalen Konflikts. Denn Fälle sexuellen Fehlverhaltens einzelner und nicht die Verstrickungen der USA in die Folterungen und
Morde lateinamerikanischer Militärs gelten als politische Untugend. Ließen wir die wahren Christen gewähren, wären die Bor-
delle gesäubert - und alle Gefängnisse überfüllt.127
In einem Land wie den USA, in dem zwanzig Prozent der Bevöl-
kerung in Armut leben, in dem Kinder vor Betreten der Schule mit einem Metalldetektor abgetastet werden (damit sie einander oder 255
ihre Lehrer nicht erschießen oder erstechen), in dem Drogensucht, Korruption und Gewalt herrschen, in einem Land, das sich Gottes eigenes heißt,128 besteht das gefährlichste Laster in einer sexuellen Anmache. Nichts schadet einem Politiker mehr als ein solcher
Verdacht. Auf der Waage der Puritanerinnen wiegen andere Laster, politische Gewalttat inbegriffen, weniger schwer.
Eine Meldung von 1930: Der dritte Grad der Folter wird im
Bundesstaat Oregon dadurch erreicht, daß die Beschuldigten in ein Leichenschauhaus verbracht werden, wo ihnen Leichen in den
widerlichsten Verwesungsstadien gezeigt werden. In Michigan
wird eine Frau zusammen mit einem Skelett eingeschlossen.129
Meldungen 1993/1994: Die amerikanische Forschungsorganisa-
tion World Priorities weist darauf hin, daß die Industrieländer für ihr Militär pro Jahr so viel Geld ausgeben, wie die zwei Milliarden ärmsten Menschen der Erde verdienen. Die Zahl der Schußwaffen in den USA beläuft sich auf über 220 Millionen. Nach Hochrech-nungen der Bundesbehörden bringen hunderttausend Schüler eine Schußwaffe mit in den Unterricht. In den USA wird durchschnittlich alle zwei Minuten ein Kind oder ein Jugendlicher erschossen.
Und die Filmzensur verbot soeben einen Werbetrailer, in dem für einen Moment Michelangelos nackter Adam aus der Sixtinischen
Kapelle zu sehen ist.130
Päpste, die sich im Schmutz waten sahen wie Paul VI. 1972,
Bischöfe wie der Regensburger Oberhirte, der 1980 auf »den engen Zusammenhang des Weibes mit dem Tier« aufmerksam machte
und lehrte, »Sexualität führt zur Bestialität«131, würden sich freuen. Ihre Saat geht auf. Der jetzige Papst spricht auffällig oft von der Permissivität der Sitten.132 Diese vom sexuellen Terrain auf das ungleich bedrohlichere der permissiven Kriegslust zu
Weitere Kostenlose Bücher