Sex und Folter in der Kirche
übertragen fiel ihm nicht ein. Die Methoden sexualfixierter Moral blieben dieselben, auch wenn ihre Protagonistinnen zum Teil wechselten: denunziationsbereite Schnüffelei, detaillierte Sündenschemata, sanktionierende Bußlisten. Sie haben einen patriarchalen Hintergrund, können auf eine von Christen geprägte Geschichte zurückgreifen. Daher sind sie erprobt praktikabel.
Auch 1994 werden in den USA eigene Keuschheitsklubs gegrün-
det; immer mehr junge Amerikanerinnen versprechen schriftlich,
»sexuell rein« in die Ehe gehen zu wollen. Die katholische Kirche startet einen großangelegten »Feldzug gegen sexuelle Erfahrungen 256
vor der Ehe«; »Abstinence Girls« diskutieren an Schulen darüber, wie sie den »Dämonen des Sex« widerstehen können.133 Ein US-College im Bundesstaat New York gibt sich 1993 einen sexualpolitischen Kodex, der festlegt, welche Worte Schüler gebrauchen müssen, wenn sie eine Mitschülerin küssen wollen. Arbeitgeber können ihre Arbeitnehmer zwingen, auf Grundrechte zu verzichten, Briefe lesen, Telefongespräche abhören zu lassen, einen Privatdetektiv zur Überwachung des Privatlebens zuzulassen. Selbst in der eigenen Wohnung darf - 1993! - mancher US-Amerikaner verbotene Wörter nicht benutzen, keinen einschlägigen Witz erzählen, will er nicht Gefahr laufen, denunziert zu werden und seinen Arbeitsplatz (in der Rüstungsindustrie?) zu verlieren.134
Die Extreme berühren sich; längst ist eine bestimmte Sexualmoral auch von links vorgeschrieben. Zensur wurde zum Schlüssel zur moralischen Korrektheit. Wer diese Moral fordert, versteht sich bewußt politisch, das heißt machtorientiert. Einzelne publikums-wirksam aufgegriffene Fälle werden von sexuell bereits asketisch durchformten Kleingruppen sofort als Beweis für eine allgemeine Unsittlichkeit gedeutet. Dieser radikal zu begegnen ist damit eine hochstehende sittliche Forderung. Die wenigen Wissenden müssen handeln, zumal »die Regierung versagt«. Sie sehen sich auserwählt, das Volk aufzuklären, im Dienste der Massenmoral einzelne Sünden dingfest zu machen, die als sexuell schuldig Definierten öffentlich zu bezeichnen und zu bestrafen.
Kleine gewaltbereite Gruppen von Erwählten verdrängen
schließlich die Opfer sexueller Gewalt und setzen sich an deren Stelle. Sie sprechen im Namen der Opfer und brandmarken nicht nur den moralischen Feind, sondern auch die wirklichen Opfer, für die sie vorgeblich handeln. Doch wer profitiert von der gewaltbe-tonten Moral? Es sind in den seltensten Fällen die Opfer. Profit haben Meinungsführerlnnen, die die einzelnen Fälle als Waffe für Disziplinierung und Bestrafung mißbrauchen. Die Arbeitgeberin-nen, deren Machtstellung sich durch Sprach- und Verhaltensregelungen nochmals stärken läßt. Die politische und religiöse Lobby, die neue, schlagkräftige Waffen gegen die Konkurrenz in die Hand bekommt. Die gaffende Masse der Zuschauerinnen, deren Lust an sexuell inspirierten Sensationsgeschichten durch intensive journalistische »Aufklärung« und durch ein allgegenwärtiges Fernsehen gefördert wird.
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Manche Opfer der selbstgerecht moralisierenden Kampagne be-
anspruchen bereits ihr Stück Kuchen: »Volksvertreter haben ein ungemein feines Gespür für die Stimmung im Volk und neigen
vielleicht deshalb dazu, ihre Sünden allzu beflissen sühnen zu wollen.«135 Zwar wird in den USA noch nicht wieder die öffentliche Auspeitschung gefordert und akzeptiert, doch bedingen sich Täter und Opfer ein und derselben Sexualmoral. In Sachen Sexualität bleibt das Gewalt anzeigende Schema von Sünde, Strafe und Erlö-
sung bis in die postmoderne Wortwahl hinein klassisch religiös.
Der sexuell Disziplinierte, der andere in Zucht hält, züchtigt, tauglich, tugendhaft macht - glaube niemand, diese Lebensform, die Tod in sich trägt, sei unchristlich oder gar unbiblisch. Der
»Jesus« der Jünger rät zu solchen Haltungen, damit die Seinen die Gefahr ewiger Strafe vermeiden. Die Vorgabe (Mt 5,30) spricht eine klare Sprache: Wer »Jesus« nachfolgen und Jünger sein will, reiße das Auge aus, das ihm (sexuelles) Ärgernis gibt, und hacke die Hand ab, die zum Bösen reizt! Denn jeder, der eine Frau begehrlich anschaut, hat in seinem Herzen schon die Ehe mit ihr gebrochen (Mt 5,28). Darauf steht die Todsünde...
Zeitbedingter Rigorismus? Unernst, unwörtlich zu nehmen?
Papst Johannes Paul II. ist anderer Meinung.136 Ein Vorschlag für die Betroffenen: Progressivere Christen sollten
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