Sex und Folter in der Kirche
nicht wegdiskutieren, was gerade nicht in den Dialog mit der Welt paßt, und ihre Heilige Schrift nicht nur als Frohbotschaft predigen, sondern auch alle Stellen ernst nehmen, die Bibelfoltern gleichkommen. Menschen möchten wissen, woran sie sind, was in Altem und Neuem
Testament gilt und was definitiv als zeitbedingt definiert ist und daher künftig vernachlässigt werden kann.
Warum ich mich mit Christentum und Kirche befasse? Es gibt in der Tat lohnendere, weiter in die Zukunft weisende Themen. Doch handelt es sich um Mächte, die wie keine zweiten unseren Kontinent über viele Jahrhunderte hinweg nicht nur geistig im Griff hatten. Dieser Macht nachzuspüren ist reizvoll. Und Folgerungen zu ziehen bleibt notwendig: Gewiß machte die abendländische
Religion in den zweitausend Jahren ihres Bestehens aus antiken und neuzeitlichen »Heiden« keine besseren Menschen. Das genaue Gegenteil ist tausendfach zu belegen: Die Jünger griffen das patriarchale Erbe auf, tauften es in ihrem Sinn und »verbesserten« nicht nur die Theorie, sondern auch alle Methoden der Verfolgung. Eros 258
und Thanatos gehen in der Liebesreligion eine eigene Ehe ein. Die Folgen sind unabsehbar; die Verwüstung des Sexus durch die Grausamkeit lebt fort. Fast bin ich versucht, hier den alten Satz zu zitieren, nach dem der Mensch des Menschen Wolf ist. Doch
möchte ich die Wölfe nicht verleumden.
Ein schwerer Fehler, die Folter als ein historisches Phänomen zu betrachten, als eine vergangene, auf bestimmte Orte beschränkte, rechtlich streng begrenzte Prozedur.137 Solche Illusionen werden bewußt genährt oder unbewußt aufrechterhalten. Sie schläfern das Gegenwartsgewissen ein und trüben die Wachsamkeit gegenüber
einer realen, überall lauernden Gefahr.
Eine etablierte Horror-Industrie kommt dem Bedürfnis vieler
Männer entgegen, zu töten, zu quälen, zu schinden und zu schänden, lustbetont zu vergewaltigen. In Film, Fernsehen, Revue, Horror-Roman, Horror-Comic werden Millionen Folterungen, Verge-
waltigungen, Schändungen, Morde zur Augenweide — gerade im
Abendland und seinem Sproß, dem christianisierten amerikani-
schen Kontinent. Die christliche und die nachchristliche, zutiefst durch Spurenelemente des Christentums infizierte Menschheit
kann allem Anschein nach mehr und mehr ohne »unseren Gott«
auskommen. Doch ob sie ohne »unseren« Teufel leben kann und
will?138 Auch er wurde von Christen eingeschleppt und zweitausend Jahre lang in der Sündenpredigt durchgefüttert.139 Beispiele: In der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts werden in
Deutschland etwa 230000 Teufelstraktate abgesetzt. Der Buch-
händler Sigmund Feyrabend verkauft bei der Frankfurter Messe
1568 insgesamt l 220 Teufelsbücher, darunter 232 Eheteufel, 203
Spielteufel, 180 Fluchteufel, 151 Jagdteufel, 136 Hofteufel, 131
Geizteufel.140
Es ist ein Maßstab für Kultur, wieweit diese gefährliche Fratze die Vorstellungen der Menschen beherrscht oder daraus vertrieben ist.141 Millionen scheinen wehrlos der alten Aggression ausgesetzt, die in ihnen hochsteigt. Die Gegenwart erlebt jene »ricorsi« mit, die bedeutende Humanisten vor Jahrhunderten fürchteten:142 Rück-fälle in Barbareien, die als überwunden galten, obgleich Auschwitz und Hiroshima noch nahe sind. Gefoltert wird heute im größten Teil der Welt; Torquemada bedient sich der neuesten Elektronik, Pharmazie, Psychoneurologie. Ich bin mir sicher, daß fast jede Leserin, fast jeder Leser geschockt ist und diese Tatsache aufs 259
schärfste mißbilligt. Ebenso gewiß, daß die meisten, nachdem sie die üblichen Gefühlsregungen überwanden, sich um nichts von
alledem mehr kümmern.
Am 10. Dezember 1948 nahm die Generalversammlung der Ver-
einten Nationen ohne Gegenstimme eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an.143 Zum fünfundvierzigsten Jahrestag der Re-solution stellte UNO-Generalsekretär Butros Ghali fest, daß eine wachsende Zahl von Regierungen die Erklärung ratifiziere und in nationales Recht umsetze, jedoch 1993 über dreihunderttausend Menschenrechtsverletzungen bekanntgeworden seien. Das bedeutet einen dramatischen Anstieg gegenüber dem Vorjahr, als der UNO dreiundvierzigtausend Fälle gemeldet worden waren.144 Die tatsächlichen Zahlen - nicht nur in Südosteuropa - liegen weltweit ungleich höher.
Der Begriff »Menschenrechtsverletzung« wird häufig euphemi-
stisch gebraucht. Noch immer scheuen sich manche, der Wirklichkeit die Ehre zu geben und von
Weitere Kostenlose Bücher