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Sex und Folter in der Kirche

Sex und Folter in der Kirche

Titel: Sex und Folter in der Kirche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Herrmann
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abzubekommen. Diese
    verbreitete Tätigkeit nennen wir »zuschauen«. Sie wird meist zu Hause ausgeübt, vor dem Fernseher vervollkommnet. Doch hier
    und da ist die ihr zugrundeliegende Fähigkeit auch unterwegs nützlich: wenn man zusehen kann, wie Jugendliche grölend einen Afrikaner aus der U-Bahn stoßen, auf einen Türken einprügeln, einen Behinderten aus dem Rollstuhl kippen (weil »Krüppel« wieder als Parasiten einer pausbäckigen Gesellschaft gelten), jüdische Friedhöfe und KZ-Gedenkstätten schänden, Brandflaschen und Molo-
    towcocktails in Asylbewerberunterkünfte schleudern. Am näch-
    sten Morgen setzen, als sei nichts geschehen, Täter wie Zuschauer ihr Leben fort; die Opfer nicht. Auschwitz aber steht als Schlüssel-34
    wort für jene Hölle, die durch alle Menschen verkörpert wird, die sich von menschlichem Leiden nicht anrühren und durch nichts
    erschüttern lassen.82 Denn »im Inferno gibt es nie irgendeinen Zweifel« (Peter Weiss).
    Zur gefälligen Bedienung aus einem »Handbuch mit 20000
    sinnverwandten Wörtern und Ausdrücken für den täglichen Ge-
    brauch in Büro, Schule und Haus«83: Synonyme für Gleichgültigkeit sind Unempfindlichkeit, Gefühllosigkeit, Stumpfheit, Sturheit, Unempfänglichkeit, Unaufgeschlossenheit, Herzlosigkeit, Seelen-losigkeit, aber auch Interesselosigkeit, Ungerührtheit, Phlegma, Indolenz, Indifferenz, Dickfelligkeit, Kaltschnäuzigkeit, Leiden-schaftslosigkeit, Lauheit, Laschheit, Apathie, Gefühlsmangel (-ar-mut, -kälte), Unpersönlichkeit, Seelenblindheit, Primitivität. Für Forscher84 bieten sich noch Objektivität, Unparteilichkeit, Neutra-lität an.
    Bitte, keine vorschnellen Ausschlüsse: Sage ich wir, meine ich uns. Wer sich nicht einbeziehen kann und will, wird die Schreck-nisse in diesem Buch nicht anders verfolgen als ein Voyeur. Er mag, zumal als bekennender Christ, vielleicht etliches von der jenseitigen Hölle wissen (wollen), doch darüber die dieseitige vergessen. Auch kann er sich über die Vergangenheit informieren, ja in frömmstem Schauer die historischen Details goutieren - und dabei übersehen, wieviel vom Vergangenen Gegenwart ist.
    In der Hölle der Gleichgültigkeit
    Ich nenne so kreuz und quer, wie die Fakten Tag für Tag unsere Medien erreichen, ein paar Beispiele für Höllen im Diesseits.85
    Damit kann der jeweils erreichte persönliche Status des Voyeurs überprüft werden, desgleichen das Niveau individueller wie gesellschaftlicher Passivität. Einen Beichtspiegel möchte ich dieses Verfahren, sich der eigenen Routine im Schaudern bewußt zu werden, nicht nennen. Seit Franz Kafka ist das Jenseits überholt; eine derart mitleidlose Führung durch die Hölle wie bei Dante braucht niemand mehr, der sich hierzulande umsieht.
    1993 sind insgesamt sechzig bewaffnete Konflikte aufzulisten, darunter dreiundvierzig Kriege, zum Teil mit religiösem Hintergrund. Drei finden gegenwärtig in Europa statt, dreizehn in Afrika, 35
    elf in Asien, elf im Nahen und Mittleren Osten und fünf in Lateinamerika. Die patriarchale, also strikt kriegerische86 Zivilisation machte in den letzten Jahrzehnten Fortschritte auf Erden: Wurden in den fünfziger Jahren noch durchschnittlich zwölf Kriege pro Jahr
    gezählt, in den sechziger zweiundzwanzig, in den siebziger zwei-unddreißig, in den achtziger vierzig, so scheint sich der Kriegspegel der neunziger Jahre, unserer Gegenwart also, auf etwa fünfzig bis sechzig Konflikte pro Jahr einzustellen, mit steigender Tendenz.
    Die Zahl der Kriege hat sich immerhin in einer Zeitspanne von nur vierzig Jahren vervierfacht, und das Friedensgerede von Politikern und Religionsführern entpuppt sich als Geschwätz.
    Müssen wir, die Christen unter uns, auf Zuschauen oder kari-
    tative Zuwendung zu den Opfern beschränkt bleiben? Oder ließe sich daran denken, die Täter ebenso wie ihre stillen Finanziers, Zulieferer, Legitimatoren, Profiteure beim Namen zu nennen, um die Aggressoren weltweit zu ächten? Selbst wenn sie christlichen Glaubens sind und hin und wieder feierliche Gottesdienste besuchen?
    Das Fernsehen sendet eine Reportage über eine Fahrt durch die unwirklich leere Landschaft um Tschernobyl und über Besuche bei den todkranken und sterbenden Opfern: Hunderte Dörfer sind mit sechzig und mehr Curie pro Quadratkilometer verseucht, in fünf-hundertdreißig Orten ist die Milch verstrahlt, die Mißbildungen an Tieren zählen nach vielen Hunderten, mehr als zwei Millionen
    Menschen sind strahlenkrank, Tausende

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