Sex und Folter in der Kirche
Abhängige, die wieder zu Kindern (zu Gotteskindern) wurden,
verloren sich selbst. Spüren sie dies, verlangen sie nach Erlösung von dem riesigen Druck. Dieses Wieder-heil-Werden wird für sie nur möglich, wenn sie bedingungslos erfüllen, was jene befehlen oder predigen, die ihnen als Väter (in der Kirche) gelten.
Freilich kennt die Kirche Methoden, die Gewaltgesellschaft, der 94
sie angehört, zu verschleiern und damit für viele erträglicher zu machen. Heute schlägt sie inmitten der allgemeinen Ratgebergesell-schaft den Weg des Zuredens ein. Doch übergreift ihre Predigt die Verhältnisse nicht. Ihre Tröstungen bleiben immanent, zumal jener Gott, der für Trost (Glaube) steht, ziemlich detailgetreu bestimmten patriarchalen Vorgaben nachgebildet wurde. Nicht von unge-fähr konnte er jahrhundertelang dazu dienen, Gewalt zu stützen, Folter und Tod nicht ausgenommen, sondern bewußt inbegriffen.
Sollen wir ausgerechnet diesen Baum nicht an seinen Früchten
erkennen?
Es gibt enge Zusammenhänge zwischen dem Haß auf andere und
dem Phantasma der Religion. Diese erhielt - ähnlich wie die Nation, ein weiterer patriarchaler Zentralbegriff - die Funktion einer idealisierten Elternbeziehung. Sie schafft Heimat im Glauben, bietet einen guten, liebenden Vater (oder deren viele: fathers, padres) und sogar eine großherzige, gemütvolle Mutter Kirche. Ein vielhun-dertjähriger Spruch legt Interessen dar: »Niemand kann Gott zum Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat.« Mit Hilfe seiner Magie soll die ständig lauernde Gefahr gebannt sein, Gott gegen Kirche auszuspielen. Was bleibt den Kindern Gottes, als sich in den Schoß der Vaterheimat und Mutterkirche zu flüchten und sich in Glauben, Moral, Ritus aufgehoben, verhaltenssicher zu fühlen?
Solche vermeintlich lebensnotwendigen Sicherheitsinstanzen bekommen einen gewaltigen Vertrauensvorrat eingeräumt; da darf
ihnen ebenso wie den leiblichen Eltern ruhig mal die Hand ausrut-schen. Die erzieherische Gewalt, die sich - in bezug auf Gott und Kirchen - auch Strafen leisten kann, wird von den bravsten Kindern in jedem Fall akzeptiert; man/frau/es fühlen sich zu Hause.
Haß auf die Nichtbeheimateten
Alles Fremde, oder genauer, als fremd Definierte wirkt auf diesem Hintergrund wie eine stark destabilisierende Kraft. Es hat in den Augen der Gläubigen, Gruppen-Gehorsamen, Geretteten192 die
Tendenz, homogene Glaubensstrukturen zu durchmischen und die
erlangte Heimat zu labilisieren.193 Das Feindbild ist geschaffen.
Verständlich, daß Jünger sich gegen diese Macht des anderen zur Wehr setzen. Es gibt in religiösen Systemen durchgestylte Kategorien 95
des Eigenen wie des Fremden, Dominanz und Unterordnung,
Höher- und Minderwertiges. Die Ideologie macht auch Menschen
der eigenen Religion, also Mitchristen, zu Fremden, Andersartigen, Verseuchten, die den Guten ferner stehen als Eskimos.
Wer, wenn nicht ein Christ, lästerte einen anderen »Verseuch-
ter«, »Verstümmelter«, »Vorläufer des Antichristen«, »Sohn des Teufels«? Waren es nicht Christen, die sich gegenseitig »nur äußerlich Menschen, im Innern aber voll von der Tollwut der Tiere«,
»Tiere in Menschengestalt«, »tolle Hunde«, »schlimme Bestien«,
»schmutzige Schweine«, »Schlachtvieh für die Hölle« schmähten?
Ein erhebendes Schauspiel für die Welt, wenn der eine Kirchenführer, den anderen »wildes Tier«, »Drachen und Höllendrachen«,
»Bestie der Erde« hieß, auch »Rattenkönig«, »Monstrum«, »stinkender Madensack«, »Papstesel« und »Papstsau«!194
Besserte sich etwas? Ist der Grobianismus nur verbal überwun-
den, die Aggression selbst nicht? Wer sich über das Feindbild heutiger Friedensfürsten informieren lassen will, schaue in die Zeitung: In letzter Zeit setzten Bischöfe mehrfach Nichtglaubende mit Nationalsozialisten gleich. Der Oberhirte J. Meisner beschuldigte am 31. Januar 1991 pauschal alle Nichtgottgläubigen der Frie-densunfähigkeit und Kriegshetze. Er kümmerte sich nicht im geringsten um die historische Wahrheit oder um die Achtung vor
Andersdenkenden, als er predigte, denen, die die »brüderliche Kommunion« und den Bezug zu Gott vermissen ließen, bleibe allein
»menschenverachtender Kannibalismus«. Schließlich wagte er den Satz, nur ein gläubiger Mensch werde auf Dauer »ein friedfertiger Zeitgenosse bleiben«, und fragte: »Wem Gott nicht mehr heilig ist, was soll dem noch heilig sein?« Damit waren Andersdenkende als
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