Sex und Folter in der Kirche
sind wieder weg. In der Geburtskirche küssen Nonnen den Silberstern in einer Nische. Der Altar in diesem Gotteshaus gehört den Orthodoxen, der silberne Stern den römisch-katholischen Franziskanern, das Madonnenbild den syrischen Christen.
Alle wachen, so eitel und ehrsüchtig wie in der Jerusalemer Grabeskirche, über ihre Besitztümer.
Nazareth, hundertvierzig Kilometer entfernt, liegt an einer Straße im Westjordanland, die so gefährlich ist wie vor zweitausend
Jahren. Immer wieder ein Checkpoint, wie in Belfast oder Sarajewo; oft befindet er sich an einer Stelle, an der »Jesus«, nach der Überlieferung der Evangelien, ein weiteres Wunder wirkte. Einkau-fen ist Glückssache: Freitags machen die Moslems zu, am Samstag die Israelis und sonntags die Christen. Souvenirhändler verkaufen Madonnen und Kruzifixe; beim Gebet wenden sie sich gen Mekka.
Ein Reporter der Süddeutschen Zeitung: »Ich suchte die Stelle, an der der Engel des Herrn die Menschwerdung Gottes verkündete,
und fand nur den deutschen Soldatenfriedhof (1914—1918). Suchte 147
den ›Berg des Absturzes‹ und verlief mich im Basar unter Schnei-dern, Turnschuhverkäufern und Hühnerbratern, die dem Gefieder an Ort und Stelle den Hals umdrehen.«3
Dem Sohn Mariens und Josephs erging es bekanntlich nicht gut
in seiner Vaterstadt; einmal wollten die Einwohner Nazareths den stark Verhaltensauffälligen4 sogar umbringen, vom Berg zu Tode stürzen. In einer Räuberhöhle an einer Straße, die heute Casa Nova heißt, soll er seine Kindheit verbracht haben. Schon mit zwölf wollte er weg von zu Hause. Ob aus Nazareth überhaupt etwas
Gutes kommen könne, fragten seine Zeitgenossen. Der Zeitungs-
mann schreibt im Dezember 1993: »Es gibt keinen Ort, an dem sie dir nicht von einem oder mehreren Toten aus einem Kampf oder
Unglück erzählen.«5 Beispiel Bet-El, Pforte des Himmels: Hier hatte der Patriarch Jakob einen Traum; der Gott Abrahams und
Isaaks versprach seinen Nachkommen wieder das Land. Ortho-
doxe Israelis nehmen das wortwörtlich. Daher steht in Bet-El eine Kaserne. Sie ist immer wieder Ziel von Autobomben.
Das Leben einer Kunstfigur
Gewalt der Gegenwart? Gewalt am denkbar falschen Platz? Oder
bloß ein weiteres Exempel für die durchgängige Gewalt unter Menschen und ihren Religionen? Jerusalem, Nazareth, Bethlehem auch anno 1994 Beispiele für den Normalzustand geheiligter Orte? Viele Menschen sind, wenigstens emotional, der Meinung, es gebe einen idealen Zustand und die von anderen herbeigeführte, grundsätzlich vorübergehende Störung. Sie bevorzugen daher das noch immer
und immer wieder beliebte Verfahren, ein engelhaftes Evangelium der erwiesenermaßen verdorbenen Kirchengeschichte gegenüber-zustellen. Doch die Abwägung von. Ideal und Abfall vom Ideal
enttäuscht die, die sich an ihr versuchen: Auch der Urzustand ist weit weniger rein als erhofft. »Jesu« Geschichte ist voller Gewalt.
Wer sie erfand, erzählte, weitergab, verfolgte seine Interessen. Das ist schwer zu hören und einzusehen.
Wie gesagt: Die Existenz eines Gottes ist mit Vernunftgründen nicht zu widerlegen. Vernunft kann nur das Schadenstiftende jenes Gottesbildes aufzeigen, dem Jünger sinnstiftende Kraft zuschreiben. Im Fall »Jesus« ist das ähnlich. Ihn in einem Atemzug mit einer 148
Kirche zu nennen, die sich auf diesen Stifter beruft, fällt heute vielen schwer. Sie empfinden meist, daß ein Graben zwischen »Jesus« und der Kirche liegt. Etliche versuchen, den Graben einfach zuzuschütten. Andere behaupten, es habe eine solche Kluft nie gegeben. Sie sei eine Imagination der Zweifelnden, ein Trauma der Kirchengegner.
Wieder andere leben von der sanftäugigen Devise »Kirche, nein —
Jesus, ja!«. Irgend etwas soll doch gerettet werden, sagen Harmo-niebedürfnis und Heilsegoismus, zumindest der wahre Jesus muß uns bleiben. Nicht zufällig ergießt sich eine Flut von Büchern auf jene, die noch Interesse zeigen. Schätzungsweise hunderttausend Veröffentlichungen pro Jahr befassen sich mit dem Heiland.6 Neue Begriffe tauchen in der breitenwirksamen Diskussion auf, von Esse-nern und von Qumran ist schon an Stammtischen die Rede, und die Zunft lacht sich eins. Es bleibt leichter zu sagen, wer »Jesus« nicht war, als zu sagen, wer oder was er gewesen ist. Denn es läßt sich festhalten, was von den Schilderungen seiner Person und von den Wiedergaben seines Handelns mit Sicherheit nichts anderes als fromme (und auch fromm betrügerische7)
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