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Sex und Folter in der Kirche

Sex und Folter in der Kirche

Titel: Sex und Folter in der Kirche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Herrmann
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Perspektive hatten und die Chose einfach andersherum erzählten: Die Trotzworte eines Rebellen erscheinen dann im Text des Evangeliums verfremdet als Fragen, die den
    Gegnern, Juden, Pharisäern, Schriftgelehrten, in den Mund gelegt werden. Sie sind allerdings so ungeschickt gestellt, daß sie sich von den salbungsvollen Antworten »Jesu« widerlegen lassen, diesen erst recht interessengeleiteten Erfindungen.
    Mit irgendeinem Menschen namens Jesus, der vor zweitausend
    Jahren lebte, und seinen Worten, Interessen, Zielen haben die aus etwa achtzig konkurrierenden Versionen ausgesonderten23 Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas, Johannes so gut wie nichts zu tun. Nicht eines seiner Worte wurde direkt aufgezeichnet. Was Jesus gesagt hatte, kursierte mündlich. Nach seinem Tod waren nur
    Einzelstücke im Umlauf, Gleichnisse, Sprüche, Spruchgruppen.
    Wann Jesus was gesagt, wie er es genau gemeint hatte, war zum Zeitpunkt, da die Jünger schrieben, nicht mehr bekannt. Kein
    Evangelium ist von einem Augenzeugen verfaßt,24 die Verfasser dieser Texte sind Zeitgenossen einer späteren Generation, historisch unbekannte Personen. Bei keinem von ihnen handelt es sich um einen der gleichnamigen Apostel. Und Paulus hat Jesus gar nicht gekannt; er interessiert sich auch nicht für ihn.
    Da weder das Wann noch das Wo, noch das Wie festgehalten
    werden konnte, durften die Späteren Stück um Stück, Wort um
    Wort glätten, umgruppieren, ergänzen. Wunder wurden hinzuge-
    dichtet, passende Sinnstücke und »Herrenworte« desgleichen, Aussagen wurden in ihrer Zielrichtung gegen die momentanen Gegner gewendet, Orts- und Zeitangaben stimmen nicht. Was heute als
    Heilige Schrift des Zweiten, des Neuen Testamentes betrachtet wird, ist ein bereits beträchtlich über Zeit und Person Jesu hinaus-entwickeltes, aus gläubigem Überschwang und gemeindlicher In-
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    teressenlage entstandenes Produkt, eine Sammlung von Erbauungs-und Missionsschriften, wie sie etlichen nützlich erschien, vor allem dem Paulus und seinem Kreis. Nicht ohne Grund warnt der Begründer des Paulismus (wie das Christentum genauer hieße) in frühester Zeit davor, einen anderen »Jesus« als den seinen zu predigen (2 Ko 11,4). Und noch ein wenig später gibt es in solchen Fragen auf den ersten Konzilien der Christenheit regelrechte Schlägereien mit Toten und Verletzten; das Konzil zu Ephesus im Jahre 449 heißt sogar Räubersynode.25 In der Frühzeit des Christentums fanden sich eben Dutzende von Evangelien, die fast alle gleich unverdaulich waren.
    Die Mehrzahl verwarfen die Jünger, angeblich unter dem Einfluß des Heiligen Geistes, wegen ihrer Albernheit. Vier behielten sie, nach grausamen Konflikten unter Brüdern. Gäbe es keine Anhalts-punkte, fragt Diderot26, Albernheit auch bei diesen vieren anzunehmen?
    Mein Jesus, dein Jesus, »unser Christus«?27 Der Mann aus Gali-läa scheint seinen Jüngern nicht weniger unheimlich gewesen zu sein als seinen Gegnern. Wie wäre es mit einer Kleiderständerthese?
    Sie ist nicht schlechter als die im zweitausendjährigen Interpreta-tionswettbewerb28 angefallenen Theorien zum »Leben Jesu«: Entweder lebte kein Jesus, oder es war von ihm so gut wie nichts bekannt, er selbst am Kreuz vernichtet. In jedem Fall konnte er blendend als Kleiderständer oder Gefühlsschablone29 fungieren.
    Auf diesen Wunsch- und Wundermann »Jesus« (ich nenne ihn
    deshalb in Anführungsstrichen) durfte bereits in den Evangelien alles projiziert werden, was individuell und gemeindlich erfordert war: Heroenkult, Wunderberichte, Heldenblutsagen, Legenden.30
    Und später, beginnend mit den Zeiten eines Kirchenstifters31 namens Paulus, konnten die untereinander wie selbstverständlich zerstrittenen32 Interessierten alle Glaubenssätze und Moralen wiederum auf diesen einen abladen. Der Kleiderständer »Jesus« (bald auch »Christus«) hielt still, ließ sich beladen, brach nicht unter der fremden Last zusammen.
    Ein solcher Gehorsam wie der des »Jesus« paßt vielleicht nicht zu einem lebendigen Menschen, schon gar nicht zu jenem einzelnen, der die Chance gehabt haben könnte, sich im Milieu des Patriarchats von ebendiesem abzusetzen und ein Zeichen für alle Zukunft zu geben.33 Doch fügt sich der umgedrehte Gehorsam dieses Menschen auffallend gut in die Interessenlage der Bibel und in die 152
    Jünger-Predigt ein. Schon zu Beginn erhebt sich die neue Religion nicht einen Deut über grundsätzlich patriarchale Vorgaben. Ihr
    »Jesus« kennt keinen

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