Sex und Folter in der Kirche
Legende ist.8
Wie sich einem Menschen nähern, der vor zwei Jahrtausenden
lebte — und dessen Leben im nachhinein von »Evangelisten« eingerichtet und beschrieben wurde? Ob er überhaupt lebte, ist weder zu beweisen noch zu bestreiten; für beides sprechen Gründe.9 Neuerdings neigt sich die Waage auf die Seite der Annahme einer Existenz.10 Diese vorausgesetzt, war der Mann aus Galiläa nicht
Christ, sondern Jude. Als solcher propagiert er eine Mission nur unter Juden (Mt 7,6), ist von der jüdischen Apokalyptik beeinflußt,11 glaubt daran, daß das Reich Gottes unmittelbar bevorstehe, ist keineswegs von Todessehnsucht erfüllt, muß das Essen und
Trinken seines Fleisches und Blutes ebenso wie die Einwilligung in den Kreuzestod als Absurdität empfinden.12
Christen kennen »Jesus« anders; paulinische Tünche13 über-
deckt mittlerweile den Urbestand. »Jesus« wird ihnen als überbra-ver Gottessohn gepredigt, der alles mitmachte, was verlangt wurde.
Wer hörte je, daß »Jesus« als Vorbild des Ungehorsams, als Rebell gegen patriarchale Zumutungen verkündigt würde?14 Eine solche Predigt wäre zutiefst unstimmig; sie paßte nicht in das Schema christlicher Zurichtung. Denn Gehorsam ist des Christen Schmuck, und deshalb können die Jüngerinnen am allerwenigsten einen
Widerständler brauchen. »Jesu« Rebellion wird daher auf be-
149
stimmte Gegner (Pharisäer, Schriftgelehrte, Ungläubige) abgelenkt.
So bleibt sie fromm, unpolitisch, gesellschaftsunkritisch.
Die Predigt ist interessengelenkt. Das ist ihr Recht. Nichts ist gefährlicher für eine Kirche, als wenn ihr Stifter sich als Rebell gegen patriarchale Zustände entpuppte. Daher muß sie so reden und nicht anders. Daher macht sie die Gegner »Jesu« auch draußen, unter den Fremden aus, sucht sie kaum bei sich selbst. Spricht aber alles gegen die Widerstandstheorie? »Jesus« beschimpft einmal die Pharisäer, weil sie den Himmel vor den Menschen verschließen, selbst nicht in den Himmel kommen und andere nicht hineinlassen (Mt 23,13). Diese und die anschließenden Reden heißen in christlicher Diktion »Wehrufe über die Schriftgelehrten«. Das stellt die Vorwürfe bleibend beiseite und macht sie ungefährlich. Wieder einmal sind die anderen die Hölle. Doch der radikale Kritiker räumte nicht nur mit ein paar zeitgenössischen Pharisäern auf, wie ihm die Jünger unterstellen. Er bekämpfte Vorstellungen, wie sie für patriarchale Religionen charakteristisch sind. Doch passen sie noch heute gut auf die Christenheit, obgleich kaum ein Kleriker sie auf seinesgleichen beziehen wird. Das christliche Feindbild ist ja bereits ausgemacht. Nähmen Christinnen allerdings »Jesus« einmal anders als gewohnt wahr, suchten sie unter dem Schutt der Verkündigung nach seinen Wurzeln, ginge ihnen »Jesus« wohl
nicht so glatt von den Lippen.
Ob der geschichtliche Jesus der Sohn war, der nach Meinung der Evangelien von Gehorsam gegen seinen himmlischen Vater überfließt? Oder war er ein göttlicher Schelm15, ein sehr weit blickender und daher trotziger Mensch, der so wenig von Gott, Vater, Vaterliebe, Sohnesgehorsam, Abrahamsopfer hielt, daß sich Patriarchen seiner Zeit16 zusammentun und ihn so schnell wie möglich umbringen mußten? Hunderte von rivalisierenden Lehrern behaupteten
bald darauf, die allein wahre Lehre »Jesu« zu verkündigen.17 Jeder beschuldigte die Wettbewerber des Betruges; offenbar lohnte es sich früh, das Geschäft mitzumachen. Nützlich für uns, sich der Streitigkeiten zu erinnern, die an der Wiege der neuen Religion standen und die im Vergleich mit den »heidnischen« Konflikten jener Zeit als gewalttätig zu bezeichnen sind.18 Ähnlich hilfreich, eine Tatsache nicht zu vergessen: Es waren die Siegertypen, die sich durchsetzten. Nach menschlicher Erfahrung sind das Gewaltbereite, Zensurwillige, Mundtotschläger.
150
Konnten sich die heutigen vier Evangelien nur deswegen (auch
gegen frühkirchliche Zensur19) behaupten, weil sie nicht die historische Wahrheit wiedergaben, sondern aus dem Rebellen einen
kreuzbraven Bestätiger der patriarchalen Zustände im Himmel wie auf Erden machten? Ich zweifle je länger, je lieber daran, daß Jesus aus Galiläa, ein Mensch mit proletarischen Kraftausdrücken20, der notorische Jasager und zweite Abraham21 war, der zu allem, was ihm zugemutet wurde, »Amen, lieber Vater« sagte.22 Ich wäre froh, ließe sich im Laufe der Zeit beweisen, daß frühe Gemeindechristen eine interessengeleitete
Weitere Kostenlose Bücher