Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
formuliert – nicht sehr positiv geäußert hat. Prokop hat über seine Schüler einen Schutzschirm ausgebreitet, und den haben sie auch in Anspruch genommen.
Mir und einer befreundeten Journalistin gegenüber hat er seinen Tresor aufgemacht und die Mauerakten herausgeholt. Es war ja klar, dass manche Leute von hinten erschossen worden sind, und da hat er immer gesagt: Ich habe die Akten weitergegeben – dem MfS. Auch das mit der Eitelkeit und dem Schutzschild verstehe ich. Aber warum hat er nicht trotzdem Gewissensbisse bekommen? Das wäre mir doch als Wissenschaftler oder als jemand, der so wahrheitssuchend ist, aufgestoßen. Auch dass die Anzahl der Suizide eigentlich viel höher gewesen sein muss, als das in der Statistik aufgetaucht ist. Das müssen doch Sachen gewesen sein, die ihn irgendwie gefuchst haben? Ich habe keine einzige Quelle gefunden, wo er jemals irgendetwas gesagt hat zu dem Thema. So was kann man doch nicht verdrängen.
Doch.
Doch?
Zunächst zu den »Mauerakten«: Prokop hat sich in Zeiten des Kalten Krieges in freier Entscheidung aus Bonn nach Ostberlin in die Einflusssphäre des Ostblocks begeben. Es war ihm sehr wichtig, 1956 dem Ruf an das Institut für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität in Berlin zu folgen: Das Institut war – neben dem Institut in Wien – die Keimzelle der akademisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Gerichtlichen Medizin im deutschsprachigen Raum. Wer die erste Auflage seines Lehrbuches »Forensische Medizin« mit seinen fachhistorischen Passagen liest, kann seine Entscheidung vielleicht nachvollziehen. Der großen wissenschaftlichen Tradition des Berliner Institutes hat er bekanntlich über Jahrzehnte hinweg mit großem Erfolg gedient. Unstrittig ist, dass er mit kritischen Statements gegen den Mauerbau sein Amt verloren und seine so breit angelegte wissenschaftliche Arbeit im für ihn inspirierenden Umfeld der Charité nicht hätte fortsetzen können. Für mich lässt die Persönlichkeitsstruktur dieses Mannes, zu der auch eine gehörige Portion Eitelkeit gehört hat, für ein Bedauern oder gar »Gewissensbisse« über die Toten an der Mauer keinen Raum.
Des Weiteren: Er hat sich mit dem Fachgebiet »Suizidologie« in seiner sozialpolitischen und psychologischen Breite, die mehr geistes- und naturwissenschaftlichen Ansätzen folgt, nicht befasst. Soweit ich mich erinnere, wurden in seinem Hause Untersuchungen zur Morphologie und zu begleitenden Befunden der Selbsttötung oder außergewöhnliche Kasuistiken veröffentlicht. Die Tabuisierung des Suizids war – wie Sie wissen – Staatsdoktrin . Die Verdeckung und oder Verfälschung von unerfreulichen Tatsachen gehörte zum Lebensalltag in der DDR. Prokop dürfte es wie alle interessierten Fachkollegen auch »gefuchst« haben, dass die Suiziddaten nicht allgemein zugänglich waren. Zum Arbeitsalltag aller Gerichtsmediziner in der DDR gehörte auch, dass neben der Übergabe des Obduktionsergebnisses an die zuständige Staatsanwaltschaft in ausgewählten Fällen auf Anforderung auch die Stasi zu beteiligen war. Bei Kapitalverbrechen oder Todesfällen an der Staatsgrenze – im Einzugsbereich des Rostocker Institutes waren es die Ostsee und die Elbe – waren in aller Regel auch MfS-Mitarbeiter im Sektionssaal anwesend.
Mit der Übergabe der Unterlagen an die »Ermittlungsorgane« war für den Gerichtsmediziner der Job erledigt.
Nach der Wende ist dann öffentlich geworden, dass Befunde oder Ergebnisberichte aus den gerichtsmedizinischen Gutachten entfernt wurden. In unserem Institut lagen alle Originalunterlagen mit handschriftlichen Aufzeichnungen vor, so dass wir in einigen Fällen nach 1990 noch zur Wahrheitsfindung beitragen konnten. Das gilt nach meiner Kenntnis auch für das Berliner Institut.
Verstehe.
Ich bin unter der Ägide von Professor Prokop Blutgruppensachverständiger geworden und habe zuvor 1987 fünf Monate im Arbeitsbereich »Blutgruppenserologie« gearbeitet. Es war die Zeit, als Reagan vor dem Brandenburger Tor forderte: »Tear down this wall.« Prokop konnte bei aller fachlichen Souveränität ein misstrauischer und vielleicht auch ein unsicherer Mensch sein. Dazu zwei Begebenheiten aus Berlin:
Ich hatte einer mir bekannten Sekretärin, die zuvor im Rostocker Klinikum gearbeitet hatte, vor Ende meiner Hospitationszeit ein Buch geschenkt. Das hat ihn einfach gewurmt.
Eines Abends gegen halb neun Uhr öffnete sich unvermittelt die Tür zu meinem Gästezimmer; Prokop schaute
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