Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
als Prokop auf einer Reise war. »Ich hatte ihn von meinem Vorgänger geerbt«, sagte er dazu mit hochgezogenen Augenbrauen, »und besaß immer nur einen Schlüssel. Wer den zweiten hatte … tja.«
Otto Prokop gegen Ende des Jahrtausends in seinem Büro im Institut für Rechtsmedizin in Berlin: geisterhafte Bruchstücke seines Lebens.
Charité
Die Charité (von französisch: »Nächstenliebe«) ist ein traditionsreiches und früher auch außerhalb von Berlin-Brandenburg für seine Forschungsabteilungen sehr bekanntes Krankenhaus.
Zur Zeit Otto Prokops spielte sich fast alles im zentralen Haus in Ostberlin ab, einem Gebäudekomplex in der Nähe des heutigen Berliner Hauptbahnhofs. Dort hatten viele bekannte und angesehene Mediziner gearbeitet, beispielsweise der Forscher, Arzt und Politiker Rudolf Virchow (1821–1902) und der Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875–1951).
Die Charité war 1710 als Pesthaus gegründet worden und seit 1810 Universitätsklinikum. Später gehörte sie zur Humboldt-Universität.
Prokops sehr schönes Institutsgebäude lag in der Hannoverschen Straße 6 zwischen dem Lehrter Bahnhof und dem Naturkundemuseum.
Heute ist die Charité die größte Universitätsklinik Europas. Das alte Institut für Rechtsmedizin gibt es nicht mehr.
Das spürbare Verblassen einer erstens geistig noch hellwachen Person, die zweitens bis heute so viele spannende Erinnerungen hervorruft, war mir unerklärlich. Sogar aus dem »Großen Brockhaus«, dem bekanntesten Lexikon Deutschlands, wurde Prokops Name in der Auflage von 1992 getilgt. Prokop wirkte zwar durchaus eitel, er war aber auch über die Maßen gescheit – beides eigentlich exzellente Voraussetzungen für ein langes Gedenken.
Wissenschaftlich war Prokop seiner Zeit oft voraus; vor allem aber suchte er sich zeitlebens kreative Kooperationspartner. Er erinnerte mich an den österreichischen Nervenforscher und Nobelpreisträger Eric Kandel (geb. 1929) – nur war der im Krieg nach New York gegangen, wo er seine Arbeiten international auf Kongressen vorstellte und ohne Anpassung an politische Gegebenheiten Geld und Arbeitskräfte einwarb.
Die vergleichsweise ungünstigen Arbeitsbedingungen in Ostberlin, der erschwerte Kontakt zu Forschern im Ausland – selbst zu Kollegen in Russland – und die oft auf Einzelfälle statt auf Reihenuntersuchungen bezogene Natur der Rechtsmedizin erlaubten es Prokop irgendwann nicht mehr, naturwissenschaftlich neue Höhen zu erklimmen. Das ist in der Rechtsmedizin auch nicht zwingend notwendig. Doch Prokop wollte es und scheiterte. Immerhin bildete er 24 spätere Professoren aus, die seinen Ruhm in die Welt trugen.
Was war also geschehen, dass der einstige Chef Otto Prokop in seinem eigenen Institut am Telefon verleugnet wurde? Dass einer der erfahrensten Rechtsmediziner und Gutachter der Welt nicht einmal mehr sezieren durfte? Und dass mehrere seiner Kollegen, Schüler und Mitarbeiter die verrücktesten Ausreden vorschoben, um nicht mit mir über ihn sprechen zu müssen?
Einer der Befragten erkrankte beispielsweise wenige Tage vor einem lange mit mir vereinbarten Termin an »einer Erkältung, die nie mehr verschwinden wird«. Selbst ein mit mir gut befreundeter jüngerer Kollege spricht seit meiner Interview-Anfrage in Sachen Prokop nicht mehr mit mir.
Die meisten der Befragten waren aber umso begieriger, meine Unterlagen einzusehen. Unter keinen Umständen wollten sie jedoch im Gegenzug etwas zu diesem Buch beisteuern. Selbst gestandene Institutsdirektoren, bekannte Buchautoren aus unserem Fach und viele andere sonst mutige Menschen gaben mir schriftlich, dass sie sich »zu Professor Prokop nicht äußern werden« oder »eigentlich auch gar nichts über ihn wüssten«.
Dazu passte, dass Prokop in den 90er Jahren auf einer Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin die Ehrenmitgliedschaft der Fachgesellschaft erhalten sollte, die Ehrung aber nach einer für uns Jüngere unverständlichen Diskussion abgelehnt wurde. Prokop war uns, wenn überhaupt, nur als alter, verdienter Rechtsmediziner bekannt. Zwar hatte ihn noch niemand gesehen, wir bewunderten aber alle seinen eindrucksvollen »Atlas der gerichtlichen Medizin«.
Es war die bis dahin erste und mir einzige bekannte Ablehnung eines Vorstandsantrages unserer Vereinigung – noch dazu in einer Versammlung, die Anträge damals häufig einstimmig beschloss. Eine der Begründungen gegen Prokops Ehrung war, dass man im Westen »doch eigentlich«
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