SGK264 - Im Wartesaal der Leichen
es
kenterte.
Im hohen Bogen flog Mi Tsu durch die Luft, schrie wie am Spieß und
klatschte im nächsten Augenblick in das hochaufspritzende Wasser.
Es drang ihr sofort in Mund und Nase, und sie wurde halb
wahnsinnig vor Angst, ertrinken zu müssen.
Dann tauchte sie wieder auf, spuckte und hustete, hielt sich
schwimmend über Wasser und starrte mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf das
zertrümmerte Motorboot. Es sah aus, als wäre es von einer riesigen Axt genau in
der Mitte gespalten worden.
Die beiden Bootshälften versanken gluckernd unweit von ihr und Mi
Tsu fragte sich verzweifelt, wie es zu diesem Ereignis hatte kommen können.
Auf dem Weg nach Hongkong lagen keine verborgenen Felsen
unmittelbar unter der Wasseroberfläche, gegen die sie aus Versehen gerammt war.
Und dann erkannte sie es ...
Etwas Langes, Riesiges schob sich aus dem aufgepeitschten Wasser.
Ein gewaltiger Fangarm, der mattsilbern schimmerte, ragte aus der
See und schnellte kraftvoll und fauchend auf sie zu.
Mi Tsu warf sich nach hinten.
Sie konnte nicht mehr denken. Sie handelte nur noch.
Auf dem Rücken liegend, versuchte sie mit kraftvollen
Armbewegungen aus dem Bereich des unheimlichen Tentakels zu kommen, der einem
gigantischen Kraken gehören mußte.
Wenn der Arm schon mindestens zwanzig Meter lang war und noch
immer nicht ganz aus dem Wasser ragte, so daß man die Rundungen des gewaltigen
Leibes sehen konnte, dann war er bestimmt noch länger ...
Wie ein Schlauch senkte sich mit entsetzlicher Langsamkeit der
Fangarm auf sie herab.
Das vordere Ende öffnete sich, wurde zu einem schwarzen, feucht
schimmernden Loch, und mit weit aufgerissenen Augen starrte die Chinesin in
einen scheinbar endlosen Tunnel, in dem ein geheimnisvolles, fernes Licht
rötlich gloste.
Mi Tsus Aufschrei erstickte.
Die Öffnung kam nach unten, ehe sie den Gedanken faßte,
unterzutauchen.
Aber selbst das hätte nichts mehr an dem Geschehen geändert.
Wie ein Fremdkörper wurde Mi Tsu aus dem aufgepeitschten Wasser
gesaugt.
Der Sog war so stark, daß sie dem nichts entgegensetzen konnte.
Sie wurde in die feucht schimmernde Öffnung gerissen, flog wie
eine Rakete durch einen knappen Tunnel und näherte sich rasend schnell dem
rötlichen Glosen, das aussah wie das Ende eines Rachens, in den sie geraten
war.
Das war kein normaler Krake!
Fangarme, die sich öffneten und das Opfer in das Zentrum des
Körpers einzogen - das paßte nicht in die Welt, die sie kannte.
Aber was war noch normal?
Mit der gestrigen Nacht hatte ein neuer Abschnitt in ihrem Leben
begonnen, der einem nicht enden wollendem Alptraum glich.
Wie gern wäre sie aufgewacht, aber es ging nicht...
*
Licht... ein seltsames Flackern lag auf ihren Augen.
Sie spürte es instinktiv, ohne daß sie die Lider geöffnet hatte.
Su Hang hatte das Gefühl, auf engstem Raum eingesperrt zu sein.
Sie versuchte sich zu bewegen, doch es ging nicht.
Was hatte man mit ihr gemacht?
Im ersten Moment schien es ihr, als würde sie zu Hause in ihrem
Bett liegen und ein Alptraum hindere sie daran, sich zu bewegen und
aufzustehen.
Doch dann wurde ihr bewußt, daß in
der Zwischenzeit einiges geschehen war, das sich Stück für Stück
an die Oberfläche
ihres Bewußtseins arbeitete.
Das Geschehen im Haus der Tsus ... der Tod von Mis Vater, das
Auftauchen Lee Tsus, für das sie keine Erklärung fand und sie an den Rand des
Wahnsinns trieb ... der Besuch im Wartesaal der Leichen bei Mister Yee Keong...
Der Angriff der lebenden Toten, die nur darauf gewartet zu haben schienen, ihre
makabren Behausungen zu verlassen, in denen sie seit zwanzig, dreißig oder mehr
Jahren eingeschlossen waren.
Die Gier nach Leben, für das sie keine Verwendung mehr hatten,
trieb sie zu einer unheilvollen Aktivität an... Sie waren wie Vampire, aber
warum ließen sie die Lebenden nicht in Ruhe?
Su Hang ertappte sich dabei, daß ihre Gedanken eigenartige Kapriolen
schlugen.
Da war nichts, was wirklich fest war. Alles zerfloß.
Warum nur diese seltsame Starre?
Sie hatte das Gefühl, in ihrem eigenen Körper gefangen zu sein.
Dann schlug sie die Augen auf.
Sofort preßte sie sie wieder zusammen. Das flackernde Licht in
ihrem Blick übte eine eigenartige, hypnotische Wirkung auf sie aus.
»Aha...«, sagte da eine Stimme in ihrer Nähe. Eine Frau sprach.
Kühl und gelassen, als würde sie Su Hang wie ein seltenes Objekt beobachten.
»Unser hübscher Gast kommt zu sich. Da wollen wir doch gleich sehen, was sie
uns
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