Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
Vergiftung, und es wurde eine Ermittlung durchgeführt.
Die Giftmischerin entpuppte sich als Rowena.
Selene schloss die Augen. Selbst jetzt, da Jahrhunderte verstrichen waren … sie konnte nur ahnen, wie sich Rourke nach einem solchen Verrat gefühlt hatte. Ob er Rowena von Abigorn geliebt hatte?
Nachdem sie verhört worden war, hatte die junge Frau gestanden und erklärt, dass ihr Vater und ihre Brüder Mitverschwörer gewesen waren. Die letzte Seite in dem Band war ein Eintrag zum Gedenken an den Tod der jungen Frau.
Selene schloss das Buch.
Da sie wusste, dass mehr hinter der Geschichte steckte, wusch sich Selene, kleidete sich schnell an und ließ ihr langes Haar offen.
Rourke wartete unten auf sie, und seine Miene enthüllte nichts. Unter einem grauen Himmel, über den dunkle Sturmwolken zogen, folgte sie ihm den Pfad hinunter, den sie ihn so viele Male hatte nehmen sehen. Als sie an der Stelle vorbeikamen, an der sie gestürzt war, schenkte er ihr ein reserviertes Lächeln.
Sie kamen zu den Stufen, Jahrhunderte alt, wie es aussah, eingemeißelt in den Fels. Er stieg voran, und sie folgte. Als sie oben ankamen, half er ihr die letzten paar Stufen hinauf. Nicht dass sie seine Hilfe gebraucht hätte, aber sie wusste die Fürsorge zu schätzen, die er ihr angedeihen ließ.
Hier auf dem flachen, erdigen Plateau wehte der Wind ihr die Röcke um die Beine. Rourke ging zu dem Felsvorsprung und blickte aufs Meer hinaus. Sie hörte, aber sah die Wellen nicht, die unter ihnen gegen die Felsen krachten. Weiße Gischt stob in einem schimmernden Bogen über ihm auf.
Der Sprühnebel legte sich auf ihre Haut und befeuchtete ihr Mieder. Ein weißer Gedenkstein stand in der Mitte des Plateaus. Sie ging darauf zu und kniete sich hin, um die Worte zu lesen. Die Zeit hatte die Ränder der Buchstaben verwischt, und sie musste darüberreiben, um sie zu erkennen.
Kurze Zeit später stand sie hinter ihm, wagte es jedoch nicht, ihn zu berühren. Ganz gleich, wie sehr er aussah, als brauche er Trost, und ganz gleich, wie sehr sie ihn trösten wollte, sie war doch klug genug, es nicht zu versuchen.
»Auf dem Gedenkstein steht ›Kind‹.«
Er nickte und sah ihr nur flüchtig in die Augen, dann schaute er wieder über das Meer.
»Dein Kind.«
»Ja«, flüsterte er so leise, dass sie das Geständnis kaum hörte.
»Und du hast es hier begraben?«
»Nein, das habe ich nicht.«
»Aber das ist ein Grabstein.«
Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Daumen über die Unterlippe. »Es ist nur ein Gedenkstein.«
»Wo ist das Kind dann, Rourke?«
»Dort draußen, irgendwo.«
»Im Meer?« Das Blut in ihrem Kopf hämmerte noch lauter als die Meereswellen, die gegen den Felsen krachten. »Wie ist dein Kind ins Meer gekommen? Was ist hier passiert?«
Dunkle Wimpern umkränzten feucht seine eisgrüne Iris. Mit einem leisen Stöhnen fuhr er sich durch das kurze Haar und hinterließ eine Spur dunkler Stacheln.
»Hier habe ich seine Mutter getötet.«
16
»Rourke, nein, das hast du nicht getan. Du hättest nicht …«
»Ich habe es getan.« Er nickte, drehte sich um und schritt auf den Stein zu. »Ich habe sie an diesem Tag mit meinen Worten getötet, mit meinem Zorn, und indem ich das tat, habe ich mein eigenes Kind getötet.«
Sie folgte dicht hinter ihm. »Ich habe deine Geschichte gelesen. Sie hat dich verraten. Das waren andere Zeiten, als Verrat fast mit Sicherheit die Konsequenz des Todes nach sich zog.«
Er schüttelte den Kopf und starrte in die Wolken empor.
»Es ist nicht nur das Kind, um das du trauerst. Du hast auch sie geliebt«, schlussfolgerte Selene leise.
»Über alles.«
»Und sie hat dich ebenfalls geliebt, nicht wahr? Aber ihre Loyalität der Familie gegenüber war größer als diese Liebe, oder etwa nicht? Sie hat getan, was sie verlangten?«
Er nickte. »Wir sind hier oben vermählt worden, nur wir beide, mit dem Priester und einigen meiner Männer als Zeugen. Sie hat mich gegen die Wünsche ihrer Familie geheiratet. Für eine Weile ging alles gut. Ich dachte, ich würde ihnen genügen, aber das tat ich nicht. Als ich die Wahrheit darüber erfuhr, wie sie mich vergiftet hatte, entfloh sie hierher, und ich folgte ihr. Ich war so zornig, Selene, so zornig, dass ich schwöre, meine Sicht der Dinge und mein Geist waren getrübt. Sie hatte meine Hand ergriffen – aber ich würde sie und ihren Vater und ihre Brüder hart bestrafen müssen, um den Respekt meiner Männer zu behalten. Meines Königs.
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