Shadow Killer - Und niemand hoert deinen Schrei
Marquez fand. Sie wusste, dass er bei der Arbeit war, und wollte alleine mit ihm reden, ohne dass sich sein Bruder, Vater Victor, schützend vor ihn warf. Alles, was sie hatte, war der Name einer Firma, bei der er ein paar Jahre angestellt gewesen war. Nach unzähligen Telefongesprächen fand sie endlich seinen neuen Arbeitgeber und die Baustelle, auf der er heute war.
Das Timing war perfekt. Es war kurz vor zwölf, und die Chancen standen gut, dass er, wenn sie ihn erreichte, gerade in der Mittagspause war.
Auf der Fahrt versuchte Becca, sich an alles zu erinnern, was sie über Rudy wusste. Was nicht viel war.
Infolge ihres Gesprächs mit Rudy auf der Wache gingen ihr noch viele offene Fragen durch den Kopf. Am wichtigsten für sie waren die von ihm erhobenen Anschuldigungen gegen Cavanaugh. Sie würde ihn noch einmal danach fragen, um zu sehen, ob es nicht doch einen Beweis für seine Behauptungen gab. Doch sie konnte auch nicht ignorieren, dass ein Maurerhammer, wie ihn Rudy sicher bei der Arbeit nutzte, die Mordwaffe gewesen war. Auch sein mögliches Motiv für die Ermordung seiner eigenen Schwester und die Tatsache, dass er vor sieben Jahren an der Renovierung des Theaters beteiligt gewesen war, sprachen gegen ihn. Sie durfte also nicht vergessen, dass ein begründeter Verdacht gegen Rudy Marquez bestand, während sie gleichzeitig nicht wusste, ob nicht Hunter Cavanaugh vielleicht von der Liste der Verdächtigen zu streichen war.
Als Becca die Baustelle erreichte – ein kleines, gewerblich genutztes Gebäude unweit der Ringstraße 1604 – blieb sie noch kurz in ihrem Wagen sitzen und sah sich suchend unter den Bauarbeitern um. Die meisten von ihnen saßen um die offene Ladeklappe eines alten blauen Pickups mit einer verschlissenen Plane herum und nahmen ihr Mittagessen ein, während sie sich fröhlich unterhielten. Rudy war jedoch nicht dabei. Während sie noch überlegte, ob die Fahrt vielleicht vergeblich war, entdeckte sie einen Mann, der ganz allein im Schatten einer Eiche saß. Sie erkannte Rudy Marquez und marschierte auf ihn zu.
Seine verwaschenen Jeans, das weiße T-Shirt und das viel zu große blaue Baumwollhemd waren über und über mit Staub und Schweiß bedeckt. Sein dunkles Haar war wild zerzaust und hing ihm in die Augen. Er sah vollkommen verloren aus, wie ein echter Einzelgänger.
Sie wusste, was für ein Gefühl es war, in einem Vakuum zu leben. Es war, als hätte man sich selber im Gefängnis eingesperrt. Doch auch wenn sie regelrecht vor Mitgefühl verging, musste sie ihre persönlichen Gefühle in diesem Fall verdrängen. Sie hatte schon einmal den Fehler gemacht, ihre eigene Trauer auf einen jungen Mann zu übertragen, der vielleicht ein Mörder war. Sie musste ihre Arbeit machen. Vor allem hatte Isabel Gerechtigkeit verdient, selbst, wenn sie darin bestand, dass ihr Bruder hinter Gitter kam.
»Ich soll nicht mit Ihnen reden«, sagte Rudy statt einer Begrüßung, als sie vor ihn trat.
Er saß auf dem Boden, hatte sich mit dem Rücken gegen den Baum gelehnt, blickte in die Ferne und nahm ihr Erscheinen nur am Rande wahr. Aber obwohl er sie nicht mit offenen Armen empfangen hatte, hatte er ihr auch nicht rundheraus erklärt, dass er nur in Anwesenheit von einem Anwalt mit ihr spräche. Was Becca als gutes Zeichen nahm.
»Warum nicht? Ich versuche schließlich nur herauszufinden, was mit Isabel passiert ist.« Sie kniete sich neben ihn und sah ihm ins Gesicht. »Wollen Sie nicht wissen, was mit ihrer Schwester geschehen ist?«
Sie hob einen Klumpen Caliche auf und knetete ihn zwischen ihren Fingern, während sie ihm weiter in die Augen sah. Das Stück kalkhaltiger, weißer Erde verlieh dem Boden eine zementartige Qualität, ihre Jeans und ihre Wanderstiefel wären sicherlich mit einer Schicht von weißem Staub bedeckt, wenn sie die Baustelle nachher wieder verließ. Auf seine Art erinnerte Rudy sie an diese Erde – außen hart, unter Druck jedoch formbar und weich. Zumindest in der Theorie. Becca warf den Klumpen Erde wieder fort, wischte sich die Hände ab und verdrängte die poetische Analogie.
Wie erwartet blickte Rudy weiter schweigend geradeaus. Einzige Reaktion auf ihr Erscheinen war, dass er die Zähne aufeinanderbiss. Ein Zeichen dafür, dass ihm ihr Erscheinen nicht gleichgültig war.
»Ich möchte mit Ihnen über Isabel sprechen, sonst nichts«, setzte sie mit ruhiger Stimme an. »Seit ich in diesem Fall ermittle, geht mir Ihre Schwester nicht mehr aus dem Kopf. Ich
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