Shadowblade: Dunkle Fesseln: Roman (Knaur HC) (German Edition)
hielt sich an dieser Grenze fest wie an einem Felsen in einem schrecklichen Ozean. Weit weg spürte sie eine Bewegung. Es war die Andeutung eines Geräuschs – ein beißender Windhauch in ihrem Hirn. Sie musste sich etwas überlegen. Sie musste sich erinnern …
Ein Schloss. Ein Schlüssel. Sie war der Schlüssel.
Ich will …
Was will ich?
Gedanken zersplitterten und trieben auseinander. Scherben kollidierten miteinander und zerstoben zu Staub. Und noch immer dieses rasiermesserscharfe Kribbeln.
Ich will …
Sie wusste nicht mehr, wer sie war, und diese Erkenntnis machte ihr Angst. Und war zugleich eine Erleichterung.
Irgendwo im Weiß spürte sie etwas, das sie verspottete. Ein Wissen, ein Beobachten, ein Sich-Weiden. Feigling.
Zorn erregte sie. Sie kannte ihren Namen nicht. Sie wusste nicht, warum sie sich hier an diesem Ort befand. Sie sammelte den Staub ihrer Erinnerungen ein, und suchend ließ sie ihn durch die Finger rinnen. Sie fand Namen, die sie nicht kannte, Orte, von denen sie kein Bild hatte, Gesichter, bei deren Anblick ihr das Herz weh tat und ihr Magen sich verkrampfte. Falls sie einen Magen, ein Herz oder einen Körper hatte.
Sie suchte weiter. Es gab etwas, woran sie sich erinnern musste. Es war wichtig. Verärgert wischte sie den Schmerz beiseite. Wenn sie keinen Körper hatte, wie konnte sie dann etwas spüren? Und wenn sie einen Körper hatte, konnte sie kämpfen. Ja. Kämpfen.
Was für Waffen hatte sie? Was konnte denjenigen verletzen, der dort im milchigen Weiß lachte?
Schließlich fand sie ein Gesicht, an das sie sich erinnerte. Ein Gesicht und einen Namen, und mit dem Namen kamen Antworten.
Ich bin Max. Ich. Will. Die. Dose. Öffnen.
Ruckartig verschwand das Weiß. Max stand wieder vor dem Altar und hielt den Deckel der Dose mit beiden Händen umklammert. Sie sackte gegen den Stein, und Tränen liefen ihr übers Gesicht.
»Geht es dir gut?«
Alexander. Er legte die Hand um ihre Hüften, um ihr Halt zu geben. Sein Arm fühlte sich an wie warmes Eisen. Sie gestattete sich, sich auf ihn zu stützen. Wie lange war sie in dem Nebel gewesen? Ihr ganzer Körper pochte, während der Schmerz abebbte. Ihre Muskeln waren verkrampft und steinhart.
»Bestens«, sagte sie und fragte sich, ob das stimmte.
Sie zögerte, bevor sie mit einer Hand in die Dose griff. Darin befand sich ihr Medizinbeutel, in dessen Innern das Hagelkorn lag, dieser kalte, harte Knoten. Sie zog den Beutel heraus, steckte ihn ein und schloss die Dose wieder.
»Komm schon«, sagte sie, als sie sich von Alexander löste. »Es ist nicht mehr viel von der Nacht übrig.«
Er gab ihr das Messer wieder, und sie kehrten zu der eisenbeschlagenen Tür zurück. Max hielt am Fuß von Selanges Bett inne. Sie könnte eine Granate legen, die es im richtigen Moment in die Luft jagen würde. Mit den Fingern strich sie über den Gurt. Sie schaute zu Alexander. Er wartete schweigend bei der offenen Tür. Sie hatten keine Zeit. Sie ließ die Schultern kreisen, um sie zu lockern, und folgte ihm. Gemeinsam stiegen sie die Wendeltreppe hinab in seine Unterkunft. Innerhalb von zwei Minuten waren sie bei der Außentür. Sie war geschlossen, aber nicht verschlossen.
»Rechnest du mit Ärger?«, fragte sie Alexander leise. Er wirkte nervös und suchte den Korridor unentwegt mit den Augen ab, die Uzi im Anschlag. Seine Hände zitterten, als stünde er kurz vor einem Zusammenbruch.
»Vielleicht. Auf dem Weg hinein ist mir etwas gefolgt.«
»Etwas?« Sie hob die Brauen.
Er nickte nur mit finsterer Miene.
»Ich nehme an, dass es sich nicht um einen von Selanges üblichen Wachhunden handelt«, sagte sie.
»Ich bin Selanges üblicher Wachhund«, erwiderte er. »Die anderen sind unterwegs, auf der Jagd nach Kindern.«
Max’ Magen verkrampfte sich. Das hatte sie vergessen. Sie bleckte die Lippen, knurrte, wollte umkehren. »Ich töte die Schlampe.«
Alexander packte sie am Arm. »Nein. Du bist gut, aber nicht so gut, und du bist im Moment nicht hundertprozentig auf dem Damm. Sie ist eine Hexe, und sie ist hier auf ihrem Sitz von der Kraft ihres Zirkels umgeben. Wir kommen später zurück, um es zu tun.«
Er klang, als wäre er noch immer ein Primus und sie eine seiner Shadowblades. Max sträubte sich, obwohl er recht hatte. »Glaubst du, du könntest mich aufhalten?«
»Das werde ich tun, wenn ich muss.«
»Du weißt schon, dass du nicht mehr Primus bist, oder?«
»Willst du behaupten, dass deine anderen Shadowblades dich anders
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