Shadowblade: Dunkle Fesseln: Roman (Knaur HC) (German Edition)
Noch gestern hätte sie die Bannzauber zu überlisten versucht, damit die Hexe die Schriftrolle entgegennehmen und ihr das hoffentlich den Schädel wegpusten würde. Doch heute hatte Max sich verändert. Es stand mehr auf dem Spiel. Hier ging es nicht länger nur um Giselle und Max. Es ging um Horngate und die Männer und Frauen, die erwarteten, dass Max sie beschützte. Sie war nicht allein. Das war sie seit einer ganzen Weile nicht mehr, doch erst heute wurde es ihr bewusst. Und ob es ihr gefiel oder nicht: Giselle und ihre Magie waren das Lebenselixier von Horngate. Ohne sie konnte Max absolut nichts ausrichten, um die Bewohner zu beschützen – ganz egal, was Magpies Visionen behaupteten.
»Entweder gibst du sie mir, oder du machst einen Abflug«, sagte sie zu dem Engel und streckte die Hand aus.
Einen Moment lang rührte er sich nicht. Etwas bewegte sich tief in seinen Augen. Dann zog er den Arm mit der Schriftrolle zurück, griff nach unten und riss sich eine kleine Feder aus der Unterseite eines Flügels aus. Blaue Flammen tanzten über den Rand und verschwanden im Innern der Feder. Das schimmernde Schwarz verwandelte sich in ein Blau, das sichtbare Hitzewellen ausstrahlte. Der Engel strich mit der Feder über das Geflecht um die Schriftrolle, so dass die Fäden zerschmolzen. Eine Macht explodierte zwischen seinen Händen, wogte in alle Richtungen davon, traf Max und ließ den Wohnwagen auf seiner Achse wippen. Max blieb stehen und spürte, wie Giselle ihre Schultern umklammerte.
Die Schnüre fielen klebrig und geschwärzt vom Pergament ab. Der Engel schloss die Faust um die Feder, und als er die Finger wieder öffnete, war sie verschwunden. Erneut streckte er den Arm aus, und diesmal hielt er die Schriftrolle Max hin. Sie zögerte nicht. Das Pergament fühlte sich heiß in ihren Händen an, als hätte sie es aus einem Ofen gezogen. Sie drehte es hin und her und schaute den Engel an.
»Wird dich das etwas kosten?«
Er zuckte mit den Schultern, verzog die Lippen und blähte die Nasenflügel. »Alles hat seinen Preis. Und ich kann ihn mir leisten«, erwiderte er abfällig.
»Ja, aber du hättest es nicht tun müssen.«
»Meine Herrin hat mir eine Aufgabe übertragen. Ich darf sie so zu Ende bringen, wie es mir angemessen erscheint.«
Genauso hatte Max es immer gemacht. Allerdings hatte sie sich besondere Mühe gegeben, Giselle dabei so oft wie möglich und auf möglichst vielfältige Art und Weise zu provozieren. Den Preis dafür hatte Max stets bereitwillig bezahlt. Langsam steckte sie ihr Messer zurück in die Scheide. Eine Geste der Friedfertigkeit.
»Denk nicht, dass du mir vertrauen kannst. Wir sind derzeit keine Feinde, aber wir könnten es sein, wenn wir uns das nächste Mal begegnen«, warnte er sie.
»Darüber mache ich mir Sorgen, wenn es so weit ist«, sagte Max. »Fürs Erste sind wir … keine Feinde. Du hättest mich die Auswirkungen dieses Spruchs spüren lassen können. Danke. Ich bin dir was schuldig.«
Max hörte Giselle laut nach Luft schnappen. Die Finger der Hexe gruben sich tief in Max’ Schulter. Der Engel riss die Augen auf und erstarrte. »Weißt du, was du da getan hast?«
Max nickte. »Ich kenne die Spielregeln.«
Dass sie ihm gedankt hatte, verlieh ihm Macht über sie. Es öffnete eine gefährliche Tür zwischen ihnen. Das war schlimm genug. Doch zusätzlich zu erklären, dass sie in seiner Schuld stand, gab ihm eine handfeste Verbindung zu ihr. Wenn er beschloss, ihre Schuld einzufordern … Angesichts seiner magischen Kräfte – Engel waren mächtige Geschöpfe des Göttlichen – wäre sie seine Marionette und müsste tanzen, wenn er an den Fäden zog. Das konnte seiner Meisterin ein Tor nach Horngate öffnen. Alles in allem hatte sie etwas verdammt Dummes getan, und zugleich entsprach ihr Handeln den Gepflogenheiten – zumindest, wenn man nach den Regeln spielte. Sie hatte ein Opfer für die Wintergreisin erbracht, die ihr dafür das Hagelkorn gegeben hatte. Auch der Engel hatte ein Opfer erbracht. Wer wusste schon, was seine Herrin ihm dafür antun würde, dass er den Fesselzauber der Schriftrolle gebrochen hatte? Max war sich sicher, dass es unangenehm für ihn werden würde. Das konnte sie an seinem vorgeschobenen Kinn und seinem angespannten Blick erkennen. Also war sie ihm etwas schuldig. Und daraus folgte, dass sie diese Schuld begleichen musste. Sie besaß nicht viel, aber zumindest hatte sie ihren Stolz, ihre Integrität und ihre
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