Shadowfever: Fever Saga 5 (German Edition)
maulst wie ein quengeliges Kind.
DU BIST NICHT FÄHIG, DAS GROSSE, EIGENTLICHE MUSTER ZU ERKENNEN. SELBST DAS, WAS DU CHAOS NENNST, HAT MUSTER UND ORDNUNG.
Gespräche mit dem Sinsar Dubh
11
I ch stehe auf einem Balkon und starre in die Dunkelheit. Schneeflocken wirbeln mir um das Gesicht und landen auf meinen Haaren.
Ich fange ein paar mit den Händen auf und betrachte sie genauer. Ich bin im tiefen Süden aufgewachsen und habe nicht oft Schnee gesehen, aber der Schnee von damals sah nicht aus wie dieser.
Diese Flocken haben komplexe kristalline Strukturen, und einige sind an den Rändern zart eingefärbt. Grün, golden, aschgrau. Sie verlieren nicht die Form auf meiner warmen Haut. Sie sind stabiler als normale Schneeflocken, oder ich bin kälter als ein normaler Mensch. Als ich die Hand schließe, um den Schnee zum Schmelzen zu bringen, schneiden die scharfen Kanten einer Flocke in meine Handfläche.
Entzückend. Rasiermesserschnee. Mehr Feenartiges dringt in unsere Welt. Es ist höchste Zeit, eine neue zu erschaffen.
Zeit.
Ich grüble über diesen Begriff nach. Seit ich Anfang August nach Dublin gekommen bin, ist die Zeit etwas Seltsames. Ich muss nur auf den Kalender schauen, um zu bestätigen, was mein Verstand weiß: Sechs Monate sind seither vergangen.
Doch von diesen sechs Monaten habe ich den ganzen September an einem einzigen Nachmittag im Reich der Feen verloren. Die Monate November, Dezember und ein Teil des Januar – das waren für mich lediglich Kalenderblätter, die aus meinem Leben gerissen wurden, während ich geistlos in meiner Sexbesessenheit vor mich hin vegetierte. Und jetzt ist ein Teil des Januar und Februar wie ein Blitz in den paar Tagen, die ich im Spiegellabyrinth verbracht habe, vergangen.
Kurz gesagt: Von den letzten sechs Monaten sind vier verstrichen, ohne dass ich es bewusst mitbekommen hätte – aus dem einen oder anderen Grund.
Mein Verstand weiß, dass seit Alinas Tod ein halbes Jahr vergangen ist. Mein Körper glaubt kein Wort davon.
Es fühlt sich an, als hätte ich erst vor zwei Tagen vom Tod meiner Schwester erfahren, als hätte die Vergewaltigung an Halloween vor zehn Tagen stattgefunden, als wären meine Eltern vor vier Tagen entführt worden und als hätte ich Barrons vor sechsunddreißig Stunden erstochen.
Mein Körper kann nicht mit dem Wissen Schritt halten. Mein Herz leidet unter Jetlag. Mein Gemüt ist aufgewühlt, weil ich den Eindruck habe, dass alles in einem sehr kurzen Zeitraum passiert ist.
Ich streiche mir das feuchte Haar aus dem Gesicht und atme tief die kühle Nachtluft ein. Ich befinde mich in einem von Darrocs zahlreichen Quartieren in Dublin – in der Schlafzimmersuite des Penthaus-Apartments hoch über der Stadt, das im selben opulenten Sonnenkönig-Stil eingerichtet ist wie das Haus in der LaRuhe 1247. Offenbar liebt Darroc seinen Luxus. Wie noch jemand, den ich kenne.
Kannte.
Wieder kennen werde , korrigiere ich mich.
Darroc hat mir erzählt, dass er über Dutzende solcher Zufluchtsorte verfügt und niemals zwei Nächte hintereinander in ein und derselben Behausung verbringt. Wie soll ich all die Wohnungen finden und nach Hinweisen durchsuchen? Ich verabscheue den Gedanken, so lange bei ihm zu bleiben, bis er mir jeden einzelnen Unterschlupf gezeigt hat.
Ich balle die Fäuste. Ich schaffe das. Ich weiß, dass ich es kann. Meine Welt hängt davon ab.
Ich spreize die Hände wieder und reibe meine Seiten. Selbst noch Stunden nach der Berührung des Unseelie-Prinzen ist die Haut dort, wo seine Hand gelegen hat, eiskalt. Ich wende mich von der frischen, verschneiten Nacht ab, schließe die Balkontüren hinter mir und verstreue die restlichen Runen auf der Schwelle. Sie pulsieren wie feuchte rote Herzen auf dem Boden. Mein dunkler See hat versprochen, dass ich ruhig und sicher schlafen würde, wenn ich eine Rune an jede Wand drücke und die Schwellen und Simse mit ihnen schütze.
Ich drehe mich um und starre in demselben Trancezustand, in dem ich mich seit Stunden befinde, auf das Bett. Ich schlurfe ins Bad und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Meine Augen fühlen sich aufgeschwollen und sandig an. Ich schaue in den Spiegel. Die Frau, die mir entgegenblickt, jagt mir Angst ein.
Darroc wollte »reden«, als wir hier ankamen. Aber ich weiß, was er wirklich im Sinn hatte – er wollte mich auf die Probe stellen. Er zeigte mir Fotos von Alina. Brachte mich dazu, mich zu ihm zu setzen, sie mit ihm anzusehen und mir seine Geschichten
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