Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
Stimme.
    Ich hätte es sagen sollen, denkt Regan, jetzt ist sie mir einen Schritt voraus. »Uns kannst du es sagen, Edmund.« Ich muß aufpassen, daß ich bei ihm nicht ins Hintertreffen gerate, denkt sie.
    »Es ist so schwer …«, druckst der Hübsche weiter herum, » … ich kann mich nicht entscheiden …« Und schließlich rückt er damit heraus: »Zwischen der Treue zu meinem Vaterland und der Treue zu meinem Vater muß ich mich in der Stunde der Not fürs Vaterland entscheiden. Der Verräter ist mein Vater, Graf von Gloster.«
    Cornwall, der Schreckliche, gibt Befehl, auf der Stelle Gloster in seinem Haus zu verhaften und hierher zu bringen, auch Sturm und Unwetter können keinen Aufschub erwirken.
    Gloster weiß gar nicht, wovon die Rede ist. »Ich soll ein Verräter sein? Ich? Ich, der ich ein Leben lang dem König gedient habe?« Er wendet sich an Edmund. »Sag ihnen, wie absurd dieser Verdacht ist!«
    »Du fragst den Rechten«, höhnt Cornwall, »er hat deinen Verrat ja erst aufgedeckt!«
    Ob Gloster in diesem Augenblick die Zusammenhänge von Intrige, kalter Schurkerei und Unschuld durchschaut? Es bleibt ihm nicht viel Zeit. Cornwall reißt ihm die Augen aus dem Kopf, wirft sie zu Boden und tritt darauf. Dann stößt er den Blinden hinaus in den Sturm.
    »Jetzt kannst du den Weg zu deinen Freunden riechen!« ruft er ihm nach.
    Ein Diener faßt sich als erster. »Ich will nicht weiterleben und mir sagen müssen, ich habe das gesehen und nichts dagegen getan«, sagt er.
    Er zieht seinen Degen und ersticht Cornwall.
    Alles furchtbar, alles entsetzlich, unausdenklich und grauenhaft ohne Frage – aber: Goneril hat einen beträchtlichen Vorteil gewonnen. Denkt Regan. Goneril ist jetzt frei. Frei für Edmund. Und dann baut die Schwester ihren Vorteil sogar noch aus.
    »Edmund«, wendet sich Goneril mit königlicher Geste an den künftigen Grafen von Gloster, »ich vertraue dir den Befehl über meine Truppen an! Führe sie gegen Frankreich in die Schlacht!«
    »Meine Truppen auch!« hinkt Regan hinterher, versucht, einen Blick von Edmund zu erhaschen.
    Einen solchen Sturm hat England noch nie erlebt! Er reißt die Wolken vom Himmel, bringt eisigen Regen, fährt auf die Schultern der Männer nieder, beugt sie krumm, wechselt die Richtung, taucht ab und sticht in die Gesichter hinter den schützend erhobenen Armen.
    Kent, der Narr und Lear irren über die Heide. Regen, Eis und Sturm schmerzen nicht, wo andere Wunden ins Herz geschlagen wurden. Barhäuptig geht der König voran. Singt er? Oder hört sich der Wind so an? Kent weiß, wenn sie nicht bald Schutz finden, werden sie die Nacht nicht überleben.
    Sie finden eine Hütte. Dort wohnt aber schon einer. Ein Verrückter, schäbig, verdreckt, das Gesicht unkenntlich gemacht mit Ruß. Ein Tom. Die Bettler heißen Tom. Und die Wahnsinnigen auch. Jeder Bettler ist ein Tom, jeder Verrückte ist ein Tom. Wer nichts hat außer Haut und dem, was die Haut zusammenhält, der ist ein Tom.
    »Auch der König ist ein Tom«, sagt Lear und streichelt dem Mann die Wange.
    Es ist Edgar, Glosters verstoßener Sohn. Ihn hat Edmund aus dem Spiel gedrängt. Der Vogelfreie, den man ungestraft erschlagen darf, wenn man ihn trifft. Er hat aus sich einen Tom gemacht. Um davonzukommen.
    Als der Sturm etwas nachläßt, macht sich Kent auf den Weg. Er will sich zum französischen Heer durchschlagen, will Rettung holen. Der Narr muß ihm versprechen, so lange auf den König achtzugeben.
    Nun sind sie allein. Drei Verrückte im Sturm. Der erste ist verrückt, weil es sein Beruf ist; der Narr verdient mit Verrücktsein seinen Lebensunterhalt. Der zweite, Edgar, ist verrückt, weil Verrücktsein sein Leben rettet. Und der dritte, Lear, droht verrückt zu werden; ihm verspricht der Wahnsinn Heilung. Die er am meisten geliebt, haben seine Liebe nicht angenommen. Die er am meisten geliebt, haben seine Liebe nicht erwidert. Die er am meisten geliebt, haben ihn, den Liebenden, verspottet, gedemütigt, klein gemacht vor den Leuten. Lear steht an der Klippe des Wahnsinns, es wäre Erlösung für ihn zu fallen. Warum springt er nicht? Weil er im Narren und im Tom sein Spiegelbild sieht? Weil er hinter der Verrücktheit seines Narren zum ersten Mal den Mann sieht, der mit seiner Narretei vielleicht eine Familie zu ernähren hat? Weil er im Gesicht des verrückten Tom die Not erkennt, die einen vernünftigen Mann den Narren spielen läßt?
    Und dann ist die Nacht vorbei, der Sturm ist verebbt, Soldaten

Weitere Kostenlose Bücher