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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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meine Liebste.«
    Julia hat Angst um Romeo. »Geh«, flüstert sie. »Geh, ehe du entdeckt wirst!« Aber sie will nicht, daß er geht. Sie will es, und sie will es nicht.
    »Ich nehme alles zurück, was ich gesagt habe.«
    »Was nimmst du zurück?« fragt Romeo.
    »Daß ich dich liebe.«
    »Liebst du mich nicht, weil ich ein Montague bin?«
    »Weil ich es noch einmal sagen möchte. Weil ich es sagen möchte, als hätte ich es noch nicht gesagt. Immer, wenn ich es sage, soll es klingen, als sagte ich es zum ersten Mal.«
    Sie haben keine Zeit, keine Geduld, die Liebe nimmt all ihre Kraft in Anspruch, so daß für Konventionen nicht viel übrigbleibt. Kein Liebespaar hat je einem anderen Liebespaar vorgemacht, wie sich ein Liebespaar zu benehmen hat.
    »Ich will dein Mann sein.«
    »Und ich deine Frau.«
    Morgen. Gleich morgen. Und wer soll sie trauen? Romeo kennt einen Priester. Er ist ein Freund. Ein verrückter Freund. Der hält es mit denen, die keine Zeit haben, die keine Geduld haben und keine Kraft, um zu tun, was der Anstand sagt, daß getan werden muß.
    »Bruder Lorenzo wird uns trauen.«
    Romeo und Julia verabreden sich in der Klause des geistlichen Freundes. Dann küssen sie sich und küssen sich und küssen sich noch einmal, und dann tanzt Romeo durch die Stadt davon.
     
    »Bist du wahnsinnig!« ruft Bruder Lorenzo aus, als er die Tür öffnet.
    Romeo hat nicht warten können, bis der Tag beginnt. Er hat den Priester aus dem Schlaf getrommelt. Hat an die Tür gepocht, auch noch, als er schon den Schlüssel im Schloß hörte.
    »Ich weiß nicht, was ich bin. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin«, sagt Romeo. »Ohne Julia bin ich nicht. Das weiß ich.«
    »Gestern hast du nicht anders gesprochen. Da war es Rosalinde. Letzte Woche war es Laura.«
    »Es ist anders.«
    »Das war es gestern auch. Und letzte Woche auch.«
    »Julia liebt mich.«
    »Das hat sie gesagt?«
    »Das hat sie gesagt.«
    »In Andeutungen?«
    »In drei Worten.«
    »Wie lange kennt ihr euch?«
    »Seit allem Anfang.«
    »In Minuten, meine ich.«
    »Sechs oder sieben. Vielleicht acht.«
    »Und kein Durch-dich-Hindurchschauen vorher?«
    »Nein.«
    »Kein Tüchlein-Fallenlassen?«
    »Nein.«
    »Kein Kichern mit Freundinnen, keine Tränenausbrüche, keine Hochnäsigkeiten?«
    »Nichts von alldem.«
    »Dann ist es ernst«, resümiert Bruder Lorenzo. »Du willst eine Tatsache schaffen? Dann laß uns eine Tatsache schaffen! Mich führt die Hand Gottes. Ich werde nach Julia schicken, sie soll herkommen. Ich werde euch auf der Stelle trauen.«
    Und so geschieht es. Gott führt Bruder Lorenzos Hand, und Romeo und Julia sind Mann und Frau.
    Lorenzo ist wirklich ein verrückter Hund! Aber einen klaren Kopf hat er doch! Und er denkt weiter als die, die ihn einen verrückten Hund nennen. So eine Tatsache, denkt er bei sich, so eine Tatsache, die ich da geschaffen habe mit Hilfe der Hand Gottes, kann diesen verfluchten Streit, der allen in der Stadt, die ihre Tassen noch im Schrank haben, längst auf die Nerven geht, endlich beenden! Und dann? Was wird man dann sagen? Man wird sagen: Er hat das fertiggebracht, er ganz allein, der Bruder Lorenzo, der verrückte Hund!
    »Euch beiden gehört die nächste Nacht«, sagt Lorenzo. »Daran kann niemand etwas ändern. Gott selbst hält diese Nacht für euch reserviert.«
    Dazwischen allerdings liegt ein Tag. Und einen längeren Tag hat es nie gegeben. Da tut man eine Stunde lang irgend etwas, und dann schaut man auf die Uhr, und es sind keine zehn Minuten vergangen. Und die nächste Stunde zieht sich noch länger hin, und an ihrem Ende sind kaum acht Minuten vorgerückt.
    Zum Glück gibt es Freunde. Romeo empfängt sie mit offenen Armen, boxt sie, umarmt sie, neckt sie. Was ist der heute gut gelaunt! Erst läßt er sich tagelang nicht blicken, sucht den Boden nach Rechtfertigungen für seine schlechte Laune ab, und jetzt kommt er so!
    »Erzähl!« zischt ihm Benvolio zu. »War noch etwas? Hast du sie noch einmal gesehen?«
    Romeo sagt nichts. Erst wenn die Nacht geschehen ist, die Nacht, die Gott für ihn und seine Julia reserviert hält, erst dann wird er erzählen. Der ganzen Welt wird er die Tatsache, die Bruder Lorenzo geschaffen hat, erzählen.
    Benvolio hat Mercutio mitgebracht. Die schnellste Zunge von Verona. Und die schärfste Zunge von Verona. Eine Wunderzunge. Sie kann dreimal so viele Worte in die Welt hinausschicken wie jede andere Zunge und zugleich doppelt so viele wie sie selbst. Bitte? Wie soll das

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