Shakespeare erzählt
heimgezahlt worden, bis schließlich eine Kette aus Reaktion und Gegenreaktion Hirn und Herz von Tochter, Sohn, Enkel, Neffe, Onkel, Vetter, Schwager und Knecht hüben wie drüben abgeschnürt hat. Eine Kette, die kein erstes Glied zu haben scheint und wohl auch kein letztes.
Immer wieder kommt es am hellichten Tag mitten auf der Straße zu Pöbeleien, Prügeleien, Messerstechereien, ja sogar zu Totschlag. Zu Anfang sei es ja noch spannend gewesen, erzählen die Alten, wie Sport: Wer macht mehr Punkte, wer schlägt mehr Wunden, wie sieht das lange Gesicht des Verlierers aus, und wie wird seine Revanche aussehen? Inzwischen empfinden die Bürger von Verona diesen Sippenkrieg nur noch als lästig und ärgerlich und für Außenstehende auch als gefährlich.
»Man kann sich kaum heraushalten. Die wollen dich festnageln: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich«, sagt ein Befragter. Ein anderer sagt: »Was ist, wenn ich mit dem einen Geschäfte machen will und mit dem anderen?« Den Bürgern der Stadt steht es bis obenhin!
Escalus, der Fürst von Verona, hat nun endlich scharfe Maßnahmen für den Fall angekündigt, sollten Angehörige der Capulets oder der Montagues mit ihren absurden Zwistigkeiten die Veroneser Öffentlichkeit weiter belästigen.
»Recht hat der Fürst«, sagt ein Befragter. »Sollen sie sich doch die Schädel einschlagen, aber bitte nicht hier! Draußen auf dem Land ist doch Platz genug!«
Der Befehl des Fürsten lautet: »Wer auch bei der harmlosesten Reiberei erwischt wird, soll innerhalb vierundzwanzig Stunden abgeschoben werden. Er wird aus der Stadt Verona verbannt, und zwar auf Lebzeiten.«
Wenn man bedenkt, daß außerhalb der Stadt kaum mehr als höllische Ödnis zu finden ist, eine wahrhaft drakonische Strafe.
In Verona lebt ein junger Mann, er gehört zur Familie der Montague, Romeo heißt er. Romeo interessiert sich wenig für diese zweifelhafte Familientradition. Über die gegenseitigen Beschuldigungen, die Hetzereien und vor allem die Gewalttätigkeiten kann er nur den Kopf schütteln. Es bedeutet ihm nicht übermäßig viel, ein Montague zu sein. Und wenn einer ein Capulet ist, stört ihn auch das nicht, solange es diesen nicht stört, daß er ein Montague ist.
Den Romeo plagen ganz andere Sorgen. Er hat Liebeskummer. Eigentlich hat er immer Liebeskummer. Zur Zeit ist er verliebt in Rosalinde, und die läßt ihn abfahren. Was heißt abfahren! Sie redet nicht einmal mit ihm. Sie macht ihn inexistent. Wenn er da ist, ist er gar nicht da. Er läßt fallen, was er in Händen hält, er macht Krach, aber sie geht an ihm vorbei, als wäre er eine Statue, die gar keinen Krach machen kann. Selbstverständlich hat er sie auch schon angesprochen. Da hat sie gelächelt, aber durch ihn hindurch, und er hat sich umgedreht, weil er wissen wollte, wer hinter ihm steht, aber da stand niemand, und dann hat er nur noch Rosalindes Rücken gesehen, diesen wunderbar wiegenden Rücken, und sie war schon wieder davon.
Romeo ist verliebt, also kommt ihm nicht mit diesen alten Familiengeschichten! Was soll er damit? Tut ihm das Herz weniger weh, wenn er einem Capulet die Faust unter die Nase drückt? Na, also.
Romeo zieht sich zurück, hockt den halben Tag beim Brunnen, rückt dem Schatten nach. Am Abend treffen sich die Burschen zum Blödsinn. Romeo fehlt.
»Was ist denn mit ihm?«
»Immer das gleiche.«
»Letzte Woche war es Laura, vorletzte Woche war es Mariella, jetzt ist es eben Rosalinde.«
»Lernt er nicht daraus?«
»Nein. Er leidet wie beim ersten Mal.«
Die Burschen lachen ihn aus. Beneiden ihn vielleicht insgeheim, weil sie sich erinnern, wie schön ihre erste Liebe war, und weil sie es bedauern, daß sie inzwischen so abgebrüht sind. Offiziell aber sind sie lieber abgebrüht als liebesmatt. Abgebrüht kommt besser an, jedenfalls bei den anderen Burschen.
Benvolio, auch einer aus dem Clan der Montagues, ist Romeos bester Freund. Klar reißt er auch seine Witzchen über Romeo, aber er macht sich auch seine Sorgen. Er ist eben Romeos Freund, und auch wenn es wahr ist, daß sich Romeo jede Woche neu verliebt – meistens unglücklich, er scheint leider wenig Talent zum Glück zu haben. Benvolio weiß, wie Romeo leidet, und er will nicht, daß er leidet.
»Romeo«, sagt er, »denk an etwas anderes! Kriegst du das zusammen?«
»Kann ich nicht. In allem sehe ich nur Rosalinde.«
»Dann schau etwas anderes an als immer nur ihr Bild!«
»Kann ich nicht. Ich stecke es in die Tasche, und
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