Shakespeare erzählt
ohne daß ich es merke, greifen meine Hände hinein und ziehen es heraus, und ohne daß ich es merke, schauen meine Augen hin.«
»Du mußt dich ablenken.«
»Was für eine Ablenkung kann so mächtig sein, daß sie über meine Hände und meine Augen gebietet, die sich nicht einmal von meinem Verstand etwas sagen lassen?«
»Wollen wir etwas Spannendes unternehmen?«
»Was ist in dieser Stadt schon spannend?«
»Etwas Gefährliches zum Beispiel.«
»Armdrücken? Sackhüpfen? Purzelbaumschlagen? Ein Schnellsprechwettbewerb mit Mercutio als Gegner?«
»So einen Wettbewerb würden wir verlieren, selbst wenn man deine und meine Worte zusammenzählte. Nein. Hör zu! Heute abend findet ein großes Fest statt, weißt du das nicht?«
»Jeden Abend werden in dieser Stadt große Feste gefeiert. Spannend ist das nicht.«
»Aber vielleicht gefährlich«, sagt Benvolio. »Das Fest findet im Palast der Capulets statt.«
»Das ist für einen Montague nicht gefährlich, das ist lebensgefährlich.«
»Dein Liebeskummer ist nicht weniger lebensgefährlich«, lockt ihn Benvolio. »Wir maskieren uns. Niemand wird uns erkennen. Viele schöne Mädchen werden dort sein. Und dazwischen: wir – rätselhaft, ein bißchen unheimlich, auf jeden Fall aufregend. Und morgen erzählen wir überall in der Stadt herum, wie es war, als sich zwei Montagues zu einem Fest bei den Capulets selbst eingeladen hatten.«
Romeo läßt sich überreden. Die beiden Freunde ziehen ihre feschesten Kleider an, besorgen sich schwarz lackierte Masken und mischen sich im Palast des Herrn Capulet unter die Gäste.
Herr Capulet ist ein ruhiger Herr geworden. In seiner Jugend war der Streit mit den Montagues die zentrale Beschäftigung seiner Tage. Inzwischen wäre ihm lieber, man hätte irgendwann eine Einigung zustande gebracht, zumal auch er selbst sich nicht erinnern kann, was eigentlich der Auslöser dieses Streites war. Dieser Streit nützt keinem, schadet jedem. Schadet vor allem geschäftlich. Man verliert Kunden. Da gibt es schließlich Händler, die wollen mit den Capulets und mit den Montagues Geschäfte machen. Die wollen sich nicht auf ein Entweder-Oder festlegen lassen. Was tun die? Sie machen ihre Geschäfte mit einem Dritten. Auch wenn Herr Capulet es bisher noch nicht öffentlich ausgesprochen hat: Dieser idiotische Familienkrieg geht ihm allmählich auf die Nerven.
Das Fest in seinem Haus ist ein Fest für die Jugend.
Herr Capulet weiß, gerade die Jungen, vor allem die Burschen, treiben den Streit voran, trommeln ihn weiter, sie brauchen keinen Grund, der Druck ihrer Hormone ist ihnen Grund genug. Ein Fest bringt da Ablenkung.
Herr Capulet begrüßt jeden Gast mit Handschlag, lobt hier ein Kleid, begeistert sich dort für einen Rock oder einen Überwurf. Es gefällt ihm, wenn junge Menschen Phantasie zeigen. Diese beiden da zum Beispiel: Sie haben sich Masken übergezogen.
»Als ich jung war«, plaudert er mit ihnen, »war das üblich. Ich besaß eine Sammlung erlesenster Masken. Ihr werdet heute abend viel Erfolg haben bei den Mädchen. Eine Maske reizt die Einbildungskraft. Ihr beiden werdet die Schönsten sein, weil die Phantasie der Mädchen euch ausstattet. Und ihr wollt kein Wort sprechen?«
Romeo und Benvolio schütteln den Kopf.
»Auch mit mir nicht?«
Sie schütteln den Kopf.
»Sehr gut! Ausgezeichnet! Ich habe es genauso gemacht.«
Romeo drückt Herrn Capulet die Hand, verneigt sich vor ihm. Verneigt sich besonders tief vor ihm. Achtung, daß die Maske nicht verrutscht! Wüßten die anderen, daß er ein Montague ist, der Skandal wäre perfekt. Benvolio kann den nächsten Tag kaum erwarten, um dann überall herumzuerzählen: Und er hat sich besonders tief vor ihm verbeugt, ich hatte schon Angst, die Maske fällt ihm vom Gesicht …
Ein junges Mädchen schreitet über die Treppe in den Ballsaal hinunter. Romeo – ein Blick: und Rosalinde ist vergessen. Als wäre sie nie ein Gedanke in seinem Kopf gewesen, nie eine Sehnsucht, nie Ursache von Verzweiflung. Inexistent. Und Romeo vergißt auch die Gefahr, die ihm hier im Haus der Capulets droht. Er vergißt alles um sich herum, läßt den Herrn des Hauses stehen, er sieht nur dieses Mädchen.
Es ist Julia, die Tochter des Herrn Capulet, sie ist noch nicht vierzehn Jahre alt. Wie eine weiße Taube in einer Krähenschar erscheint sie ihm. Ihr Schimmer überstrahlt alle. Und Romeo verliert sich, er hört seine Stimme und kann seiner Stimme nicht befehlen zu schweigen, seine
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