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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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Leichen –, mochte er einen Lidschlag lang denken, in Schlafräume voller Etagenbetten zu blicken. Doch die Stille darin war natürlich eine andere, auch und gerade wenn die Aggregate brummten.
    Die Morgensonne schien über dem Klinikpark, die Vögel sangen, und hier und da stand eine Rose derart voller Tau, dass sie – als könnte sie den Schatten des Vorübergehenden nicht auch noch tragen – sich ruckartig zur Seite neigte. Oswald, der trotz seines freien Tages schon um halb acht aufgestanden war, stieg durch das Treppenhaus der Notfall-Ambulanz in den Tunnel hinab, bog an der Hauptkreuzung nach Süden und blinzelte in das spärliche Licht. Nicht viele waren gestorben in der Nacht, es gab kaum etwas zu tun; zwei Betten standen in dem engen Gang, leicht verkanntet, und ein eimerartiger Behälter mit einem verdorbenen Spenderherz. Man hatte die Laken so weit über die Gesichter der Toten gezogen, dass die Füße hervorschauten, und die Kärtchen mit den Personalien an den großen Zehen pendelten in der Zugluft, als er die Stahltür aufschloss.
    In dem geräumigen Büro der Pathologen hing tatsächlich ein weißer Kittel für ihn, und Oswald streifte sich ein Paar Gummihandschuhe über und zog das erste Bett in den Vorraum. Eine Frau lag darin, eine zarte Greisin mit langem Haar, perlmuttfarben schimmernd; die Binde, die man ihr um Kinn und Kopf gewickelt hatte, verlieh dem Gesicht etwas Nonnenhaftes. Die spärlich bewimperten Augen geschlossen, schien sie zu lächeln auf eine gütige und auch souveräne Art, als hinge sie schönen Gedanken nach und hätte von nun an Verständnis für alles und jeden, sogar für ihren Tod. Unter dem Kehlkopf gab es ein Loch, durch das man die Luftröhre sah, und er arretierte die Räder, schob die Arme unter die Nackte und trug sie in den Kühlraum. Dabei gluckerte es leise in ihrem Bauch.
    In dem anderen Bett lag ein sehr korpulenter Mann um die fünfzig, und die Zwei-Euro-Stücke, die man ihm auf die Augen gelegt hatte, fielen zu Boden, als Oswald ihn anhob. Er war schon erstarrt, die Knie knackten, gaben aber kaum nach, und die Spannung in seinen fetten, etwas abstehenden Armen wollte ihm wie etwas Lebendiges erscheinen, ein letzter Trotz. Vorsichtig trug er ihn in den Kühlraum, in dem das Licht nur flackerte, und wäre fast über eine Bierkiste gestürzt. Die stand gleich hinter der Schwelle, und nachdem er den Mann verstaut hatte, wischte er die beiden Münzen am Kittelärmel ab und legte sie auf seine Lider zurück.
    Dann warf er die Handschuhe zum Müll, öffnete die Fenstertür und setzte sich auf die kleine Terrasse vor dem Büro. Die Armlehnen der weißen Plastiksessel waren verbrannt von den unzähligen Kippen, die die Sektionsgehilfen darauf ausgedrückt hatten. In glasierten Töpfen schossen Rosmarin und Petersilie ins Kraut, und vor einem Jägerzaun, an dem hier und da Latten fehlten, stand ein rostiger Grill. Dahinter erstreckte sich eine leicht ansteigende, von krummen Pfaden durchzogene Wiese voller Kastanien, und obwohl es viel Raum gab zwischen den schrundigen Stämmen, verzweigten sich die mächtigen Kronen so, dass nur vereinzelte Sonnenstrahlen bis zu dem Haus in ihrem Schatten fanden.
    Es war eine alte, aus Holz und Natursteinen gebaute Villa mit einer bunt verglasten Veranda auf der Gartenseite. Das schiefergedeckte, dem Norden zu grüne Dach hatte einen kleinen Turm mit einer zeigerlosen Uhr, ein Stück der Regenrinne baumelte von der Traufe, und in den Rahmen der verstaubten Fenster, hinter denen man Bücherregale erkannte, bröckelte der Kitt. Aber vor dem Portal standen zwei neue Wagen, ein Mercedes Coupé und ein City-Jeep, und die Frau in dem weißen Morgenrock, die gerade auf die Veranda trat, wirkte sehr elegant. Ihr rotblondes, in Wellen auf die Schultern fallendes Haar war schon frisiert, die vollen Lippen geschminkt, und die Ringe an ihren Fingern blitzten, als sie in die Hände klatschte.
    »Frühstück ist fertig!«, rief sie und meinte offenbar das Kind, das tiefer im Garten vor einem runden Steintisch saß. Die Brauen gerunzelt, die Zungenspitze zwischen den Lippen, schrieb oder zeichnete es irgend etwas und reagierte nicht oder nur mit einer unwilligen Miene. Neben seinem Ringbuch hockte eine schwarze Katze, starrte auf die Spitze des Bleistifts und streckte vorsichtig die Pfote danach aus, was den sommersprossigen, vielleicht acht oder neun Jahre alten Jungen aber kaum störte; sanft schob er sie mit dem Handrücken weg.
    »Ich hab’s

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