Shakespeares Hühner
In Reimen. Ich frag was, und die Maus antwortet. Das gibt’s natürlich nicht in Wirklichkeit, klar. Schon gar nicht, wenn sie tot ist. Aber im Gedicht kann man das machen.«
Einen Moment lang bewegte er stumm die Lippen, und schließlich drückte er den Rücken durch und deklamierte dunkel: »Maus, wo ist dein Schwanz?« Dann ließ er die Schultern sinken und piepste: »Ich verlor ihn wohl beim Tanz.« Die Musik im Haus wurde lauter, ein Cello fiel in das Klavierspiel ein, und erneut zog der Junge das Kinn an den Hals. »Maus«, fuhr er fast brummend fort, »Maus, sag mir, wo sind deine Ohren?« Und wieder im Diskant: »Welche Ohren? Auch verloren!« An der Unterlippe nagend, beugte er sich tiefer über das Blatt. »Und deine wunderzarten Krallen?« Er prustete leise, wurde aber gleich wieder ernst. »O je!«, sagte er weinerlich. »O jemine! Ich glaub, sie sind mir grad entfallen.«
Dann hob er den Kopf, und Oswald, grinsend, reckte einen Daumen aus der Faust. Da wurde der Junge vor Freude rot. »Cool, oder? Die Idee ist vielversprechend, meint Papa. Und die ist das Entscheidende, nicht wahr. Vielleicht lassen wir es ja vertonen, und es kommt in ein Liederbuch. Mit Mahler und so.«
Der andere hielt die Bierflasche gegen das Licht. »Das würde ich auch machen; es hat wirklich Pep. Und es ist spannend. Man möchte wissen, wie es weitergeht. Kriegt die Maus ihre Sachen denn wieder?«
Vincent starrte auf den Zettel. Dann fingerte er einen Bleistift aus der Hemdtasche, einen Stummel nur, und strich etwas durch. »Keine Ahnung«, murmelte er. »Ich find’s ja auch zu kurz, aber im Moment hab ich eine Blockade. Hier steht noch ein Satz von Mama, warte mal. Die hat vielleicht eine Klaue. ›Maus, wo ist dein graues Fell?‹ Weißt du dafür einen Reim?«
Oswald zog die Mundwinkel herab. »Glaub kaum. Ich les ja nur Zeitungen und Illustrierte, da reimt sich höchstens die Werbung. Aber ich denk mal drüber nach, hab’s im Kopf.« Dann zeigte er auf das Haus. Der Vater, der einen dunkelblauen Anzug trug und sich die Krawatte gelockert hatte, war vor die Veranda getreten und blickte über die Wiese. Er hielt eine Zigarre zwischen den Fingern. »Und jetzt geh mal wieder auf eure Party. Sieht aus, als wirst du gesucht.«
Vincent blieb sitzen. »Der Autor bin natürlich ich«, flüsterte er nach einem raschen Blick über die Schulter. »Mich kennt man. Aber wenn du mir helfen würdest, könnte ich es dir widmen. Dann stände mein Name oben und deiner unten: Für den lieben ... Wie heißt du eigentlich?« Er faltete den Zettel zusammen, und kaum hatte er es gehört, grunzte er spöttisch und glitt vom Stuhl. »Onkel was? Mensch, sind wir heute witzig! Echt zum Beömmeln. Ich krieg mich nicht ein. Gabi ist doch ein Frauenname!«
Der andere stand ebenfalls auf. »Ach so? Das hat mir auch noch keiner gesagt. Dann schreib eben: Für Tante Oswald. Wäre das ein Männername?«
Er zwinkerte, und Vincent, schon auf der anderen Zaunseite, lief lachend davon. Doch vor der Villa drehte er sich noch einmal um, zog die weißen Kniestrümpfe hoch und rief: »Soll ich dir was verraten? Ich bin froh, dass wir uns kennen. Du bist mein größter Freund!«
Der Vater legte den Kopf in den Nacken und blies etwas Rauch in die Luft. Es war ein schmaler, nahezu knochiger Mann mit bläulichen Bartschatten auf den Wangen und einer schlechten Haltung; der Rückensaum des Sakkos hing höher als die Schöße. »Und du gehst dir jetzt mal die Hände waschen«, sagte er, nickte dem Krankenhausangestellten zu und folgte sei-nem Jungen auf die Veranda. »Und zwar gründlich!«
Anfang der Woche setzte Oswald sich in die Straßenbahn und fuhr in die Innenstadt. Zwar gab es eine kleine Buchhandlung ganz in seiner Nähe, doch die zu betreten war ihm peinlich; dort hockten immer junge Mütter mit ihren Kindern, der Bilderbücher wegen, wie es schien. Aber ihre Blicke aus den Augenwinkeln meinten etwas anderes. Also ging er in einen der großen Läden in der Fußgängerzone, wo er in Ruhe stöbern konnte, ohne dass ihn jemand ansprach, und fand tatsächlich, was er suchte, eine herabgesetzte Taschenausgabe.
Er las darin, während er sich zum Zahlen anstellte, und so sah er die Frau an der Kasse zu spät. Es war die aus dem Freibad, und ihre feinen Armreifen klirrten leise, als sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr strich. »Ach schau, mein Sonnenanbeter«, sagte sie, zog das Buch über den Scanner und betrachtete den Titel. »Ein Reimlexikon? Im Ernst?
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