Shakespeares Hühner
werden auf dem Weg in diese Morgue. Der lange Tunnel mit den moosigen Wänden war viel schmaler als die anderen und wurde nur von wenigen Glühbirnen erleuchtet. Kondenswasser tropfte von den winzigen Stalaktiten unter der Betondecke, leicht glitt man aus auf dem abschüssigen Estrich, und je mehr man sich der Stahltür näherte, auf die irgendein Witzbold Paradies gekratzt hatte, desto enger erschien einem der Schacht. Kaum vorstellbar, dass ein Krankenbett da hindurchkam. Und doch passierten täglich Dutzende die Tür.
Und das war das Problem. »Die Sektionsgehilfen arbeiten nicht mehr an den Wochenenden«, sagte der Oberpfleger. »Sind alle in der Gewerkschaft, diese Aasgeier. Und jetzt stauen sich die Betten in den Gängen. Letzten Sonntag standen sie bis zur Hauptkreuzung hier unterm Teich. Du kannst dir ja vorstellen, wie das aussieht, trotz der Laken.« Er zog an seiner Zigarette. »Und wie es riecht ... Eau de kaputt. Und dann werden die lebenden Patienten da vorbei geschoben, weil sie zum Röntgen müssen oder ins Labor, und kriegen gleich noch einen Infarkt. Oder die Knirpse aus der Kinderklinik, die man zur Bestrahlung fährt ...«
Oswald schüttelte den Kopf. »Ja«, sagte er. »Das ist nicht schön.«
»Furchtbar ist das«, bekräftigte sein Chef. »Ein unhaltbarer Zustand. Aber bis die neue Pathologie mit ihren Förderbändern fertig wird, dauert es noch Wochen. Und da hab ich mir gedacht: Mensch, frag doch mal den Onkel Gabi. Der wohnt gleich gegenüber, hat keine familiären Verpflichtungen und kann mindestens vier Reissäcke tragen ... Was wiegt dagegen so eine Leiche, nicht wahr. Du hebst sie aus den Kissen, legst sie ins Kühlhaus und schiebst das leere Bett in den Sammelgang unter der Gyn.«
Einen Moment lang sagte Oswald nichts; er starrte auf den Goldfischteich, wo die eine oder andere Rückenflosse, kaum ragte sie aus dem schwarzgrünen Wasser, wie ein Flämmchen in der Abendsonne glühte. Dann schloss er die Augen und schluckte. »Das könnte ich schon machen, klar. Aber eigentlich ... Ich muss doch auch am Wochenende arbeiten«, murmelte er. »An jedem zweiten. Die Leute haben immer Hunger.«
»Na, umso besser! Dann bist du schon mal auf dem Gelände«, sagte der Oberpfleger. »Versteh mich richtig: Das alles dauert höchstens eine Stunde. Du beseitigst den Stau und gehst nach Hause. Die Zeit kannst du dir selbst aussuchen. Und natürlich machst du es nicht umsonst. Wir regeln’s intern, so eine Art Leistungsprämie oder Schmutzzulage oder was. Ich meine, wie lange bist du jetzt bei uns? Wann hab ich dich eingestellt?«
Oswald nickte, kratzte sich die Daumenwurzel. So einfältig, dass er die Anspielung überhörte, war er nicht. »Gleich als ich rauskam, vor sieben Jahren«, antwortete er, trat seine Zigarette aus und warf den Stummel in den Abfallkorb neben der Bank. »Aber ich brauch ja nicht mehr Geld, Herr Grothe. Das können Sie schon mal sparen. Ich hab nur Angst, dass ich was falsch mache. Leichen tragen ... Die sind doch keine Gemüsekisten. Wie müssen die denn aufgebahrt werden? Mit gefalteten Händen, oder was? Und soll ich denen die Augen schließen?«
Der Oberpfleger winkte ab. »Um Gottes willen! Das überlassen wir dem Bestatter; der hat Klebstoff. Du nimmst sie, wie sie geliefert werden, und packst sie ins Kühlhaus, fertig. Aber sieh zu, dass sie auf dem Rücken liegen, sonst lacht dich am nächsten Tag ein Neger an.« Er reichte ihm einen Schlüssel. »Morgen geht’s los; ich hab dir schon einen Arbeitskittel runterbringen lassen, einen weißen. Wenn du willst, sticken wir deinen Namen rein.« Dann warf er die Kippe in den Teich und schmunzelte, als er Oswalds Verwunderung sah, die erhobenen Brauen. »Aber natürlich, Kumpel.« Er klopfte ihm aufs Kreuz. »Du gehörst doch jetzt zum medizinischen Personal!«
Trotz der Schimmelflecken an den Wänden war der Geruch in der alten, kurz nach dem letzten Weltkrieg erbauten Pathologie nicht sehr speziell. Aber gerade weil er sich kaum von dem einer gewöhnlichen Fleischerei unterschied, blieb er auch nach dem flüchtigsten Aufenthalt sehr lange in der Nase. Die Verstorbenen wurden nicht, wie es heute in jedem zweiten Krimi zu sehen ist, in nummerierten Edelstahlboxen mit leichtgängigen Schubladen aufbewahrt. Man legte sie in Zinkblechwannen und schob die in rostige, aus alten Schienen zusammengeschweißte Regale, und öffnete jemand zum ersten Mal die Kühlkammern – es gab eine für männliche und eine für weibliche
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