Shakespeares Hühner
gleich«, murmelte er und beugte sich tiefer über das Blatt. Er saß auf einem wackeligen Klappstuhl, die nackten Füße pendelten über dem Boden, und erst als seine Mutter mehrmals mit dem Löffel gegen eine Tasse schlug und ein hagerer Mann im Pyjama an die Verandabrüstung trat und leise mahnend »Vincent!« rief, schmiss er den Stift hin, und die Katze sprang vom Tisch. »Verdammt noch mal, ich war so gut im Fluss!«
Doch statt zu seinen Eltern zu gehen, kam er die Wiese herunter, quer durch Goldruten und Farn. Die Schienbeine zerkratzt, trug er eine knielange Hose mit Adidas-Streifen, und auf dem gelben T-Shirt stand in verwaschenen Buchstaben Wow! »Sind Sie Arzt?«, fragte er, wobei es nicht klar war, ob er lächelte oder das Gesicht verzog, weil ihm die Sonne in die Augen schien. Seine rotbraunen Haare waren sehr kurz geschnitten, und die Ohren standen beträchtlich ab. »Hätten Sie nicht gedacht, dass ich das errate, was? War aber nicht schwer. Die Männer, die sonst hier sitzen, sehen anders aus. Die sind nicht so groß und tragen Gummischürzen. Sie sind wahrscheinlich der Chef, oder?« Er lehnte sich an den Zaun und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin übrigens Schriftsteller, wie mein Vater. Mama singt.«
Oswald kraulte der Katze, die unter den Latten hindurchgeschlüpft war und schnurrend um seine Beine strich, den Rücken. »Schriftsteller?«, fragte er. »Donnerwetter, das ist mal ein Beruf! Was schreibst du denn?«
»Na, Gedichte. Damit muss man anfangen. Papa sagt immer, ich reime wie ein Weltmeister. Ist aber auch leicht: Schöne heiße weiße Scheiße.« Er wies mit dem Daumen hinter sich. »Wie finden Sie übrigens unser Haus? War gar nicht teuer, ein echter Fitsch. Da oben, das runde Dachfenster – ach nee, das heißt ja oval –, das ist mein Zimmer. Wir wohnen erst vier Wochen hier, doch ich kenne schon mehr Verstecke als meine Eltern. Es hat sogar eine Geheimtreppe!«
Oswald nickte. »Wie im Märchen, oder? Man könnte was draus machen.«
Der Junge rieb sich den Ellbogen. »Ja, das sagen viele. Aber wir bleiben nicht lange genug, leider. Wir werden es vermieten, mit allen Büchern. Im Herbst müssen wir nach Sydney, für zwei Jahre. Die Oper sieht wie ein Saurier aus. Stegosaurus-Polacanthus.« Er hob das Kinn und sagte in belehrendem Ton. »Sydney liegt in Australien, weißt du. Auf der anderen Seite der Erdkugel.«
»Ach so!« Oswald blickte auf die Uhr. »Wo die Sterne tief unter den Füßen leuchten, stimmt’s? Da würde mir ganz schön schwindelig werden.«
Der Junge lachte, tippte sich an die Stirn. »Na, du bist ’ne Marke. Das muss ich mir merken. Willst du mit uns frühstücken? Komm, ich lad dich ein. Frau Millers Quarkspeisen sind echt super, und wenn keiner hinguckt, kriegen wir ein Käsebrot mit Marmelade.«
Doch Oswald bedankte sich, sprach von Arbeit und stand auf. Im Schatten wurden die grünen Augen des Kleinen braun, und er rieb sich etwas Spucke auf den Mückenstich am Ellbogen. »Ich hab noch Ferien. Aber ich muss trotzdem zur Klavierstunde«, sagte er und rümpfte die Nase. »Und zu der dicken Französisch-Lehrerin und zum Yoga. – Was ist das hier eigentlich? Ein Operationssaal?«
Der andere blickte in den Himmel. »Nein, nein. Operiert wird in der Chirurgie. Hier ist nur ein Lager.« Dann trat er über die Schwelle, nickte ihm zu. »Also, Dichter, mach’s gut!«
Weil aber die Katze versuchte, mit ihm in das Büro zu huschen, konnte er die Glastür nicht schließen; zwar drängte er sie mit dem Fuß zurück, sehr behutsam erst, doch gab sie nicht nach. Immer wieder versuchte sie über seinen Spann zu springen oder unter der Sohle hindurch zu gleiten, wobei sie klagend maunzte, und endlich bückte er sich, griff ihr ins Genick und reichte sie dem Jungen über den Zaun.
»Sie will ihr Fressen«, sagte der und barg sie in beiden Armen. »Die anderen geben ihr immer was.«
»Wieso?«, fragte Oswald. »Was geben sie ihr denn?«
»Keine Ahnung.« Er schmiegte seine Wange an das Fell und stolperte über die Wiese davon. »Fleisch wohl. Von ihren Broten.«
Am nächsten Tag, einem heißen Sonntag Ende August, kaufte Oswald sich am Klinik-Kiosk ein paar Brötchen, zwei Frikadellen und eine Literflasche Cola und ging ins Freibad, wo er einen Sonnenschirm mietete und in der Bild-Zeitung las, die er aus dem Papierkorb gezogen hatte. Einmal versuchte er, eine Runde zu schwimmen, doch das Becken war zu voll. Die kreischenden Kinder, Ertrinkende
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