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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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stellte sie ihren Wecker – das morgendliche Zazen begann um vier – und streckte sich auf dem Futon aus.
    Immer noch war es so schwül, dass sie sich Davids Sweatshirt, gewöhnlich ihr Nachthemd, nur auf den Körper legte. Unzählige Motten hatten die Seidenbespannung der Zimmerdecke zerfressen, eine Galaxie aus Löchern, und plötzlich hörte sie Geräusche, ein Klopfen irgendwo, und setzte sich wieder auf. Es klang, als würde jemand mit dem Knochen auf die hohle Holzkugel schlagen, zaghaft erst, dann immer rascher. Aber im Meditationsraum, das war durch die offene Bürotür zu sehen, befand sich niemand; Wind bewegte das Schilf am Gartenteich, Schatten schoben sich in Schatten. Und doch glaubte sie, das leise Knacken der Tatamimatten zu hören. Ihr Puls schlug in der Kehle, sie kriegte keine Luft, und schließlich stand sie auf und trat hinaus, um sich vom Regen, seinem Rauschen, und dem Quaken der Frösche beruhigen zu lassen.
    Auch auf der Veranda war es nur wenig kühler geworden, und sie lehnte sich an einen Pfeiler, schmiegte die Wange an das Holz. Eine Zigarette hätte sie gern geraucht, doch der Tabak lag nicht mehr auf dem Esstisch, und sie musste daran denken, wie viele missgebildete Tiere es gegeben hatte während ihrer Prozession vorhin, einäugige, dreibeinige oder mit seltsamen Auswüchsen bedeckte. Manche hatten auch Wunden gehabt, wie von Krallen, und trotzdem schleimige Schleppen aus Eiern hinter sich hergezogen, und in dem Moment, in dem sie noch rätselte, ob es herabprasselndes Wasser war, das dort draußen im Lichtstrahl einer Fahrradlampe glänzte, oder das Gestrichel der Reispflanzen, sah sie ihn über die Veranda kommen.
    Seine schwarz gespiegelte Silhouette, von den Segmenten der Glastüren zerteilt, schien ihm einen Schritt vorauszueilen. Er trug keine Sandalen, die nassen Füße patschten auf den Dielen, und atemlos, keuchend fast, wischte er sich die Haarsträhnen aus den Augen und starrte sie an. Es war ein erstaunter Blick, wie früher nach längerer Abwesenheit, und sie stemmte die Hände an die Hüften und biss sich innen auf die Lippe, um nicht zu lächeln. Der Anzug klebte an seinem Körper, und eine Naht riss, als er versuchte, sich aus der Jacke zu schälen. Auch die Hose war so klatschnass, dass sie ihm den Stoff, unter dem sich alles abzeichnete, von den Hüften rollen musste. Er zitterte ein wenig, er schmeckte nach dem süßen Regen, und dann war er auch schon über ihr. »Geht es?«, fragte er heiser. »Tu ich dir weh?«
    »Ja«, sagte sie, »nein«, und sank auf das Futon. Es gab keine Vorhänge an den Türen, und deutlich war zu erkennen, wo jener Vogel dagegen geprallt war; nicht nur das hauchgraue Abbild seiner gespreizten Flügel, auch der krumme Schnabel und das aufgerissene Auge schimmerten an der Scheibe. Die Arme fest um Davids Nacken, schloss sie die Lider. »So komm doch«, flüsterte sie und krallte die Nägel in seine Schultern. »Komm schnell! Der Gott kann nicht warten.«

Sterne tief unten
    I n den Büchern des Klinikums am Westkreuz wurde er als »Hilfskraft« geführt, ein kahlköpfiger Saarländer, der nicht viel sprach und selten lächelte. Etwa Mitte oder Ende dreißig, lebte Onkel Gabi allein in einem der Hochhäuser am Kanal, in denen es billige Personalwohnungen gab, und obwohl der große Mann nicht selten die Blicke auf sich zog – wie bei vielen Menschen mit blatternnarbigen Wangen waren seine Augen besonders schön und klar –, hatte ihn bisher niemand mit einer Frau oder einem Freund gesehen. Im vergangenen Sommer pflegte er eine zugelaufene Hündin, eine humpelnde Promenadenmischung, die aber bald starb.
    Manchmal hockte er eine Stunde im »Kegler-Eck«, wo er zwei Bier trank und ein paar Münzen an den Automaten verspielte. Hatte er Glück, steckte er den Gewinn in sein Sparfach neben der Theke, und wer ihn dabei in eine Unterhaltung ziehen wollte, musste schon Langmut zeigen. Denn Onkel Gabi antwortete stets einsilbig und brachte auch nach einem spendierten Schnaps kaum mehr über die Lippen als »Glaub nicht«, »Schon möglich« oder »Schönes Wetter«. Dabei kratzte er sich unablässig an der linken Daumenwurzel, wo es eine kleine Tätowierung gab, drei schwarzblaue Punkte.
    Die meisten Frauen in der Klinikküche hielten ihn für einfältig, was wohl nicht nur falsch war, denn während ihrer Montagswitze, bei denen sie lauter kreischten als die Knochensäge, oder nach gewissen Anspielungen, seine Körpergröße betreffend, wusste er

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