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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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oft nicht, wohin mit dem Blick, und sah vor Scham fast dümmlich aus. Sie waren es auch, die ihm den seltsamen Namen gegeben hatten, der dann von allen verwendet wurde, sogar vom Oberpfleger, dem Personalchef. Sicher spielte das »Onkel« auf seine Gutmütigkeit an, und in »Gabi« klang womöglich der Verdacht mit, dass seine Immunität gegenüber weiblichen Reizen homosexuelle Gründe haben könnte. Doch hieß er in Wahrheit Oswald Gabriel.
    Es gab drei Küchen in dem Klinikum, eine für Normal-, eine für Schon- und eine für Diabetiker-Kost, und wenn er frühmorgens kam, fegte er zuerst die Kakerlaken zusammen und schaufelte sie zu den Essensresten vom Vortag. Die standen in Kübeln auf dem Hof und wurden später von einer Schweinemästerei abgeholt. Dann zog er seinen grauen Kittel an, stellte sich ans Fließband und half, die Tabletts für das Frühstück zu füllen; er spachtelte Frischkäse in die Schälchen, zählte Brot- und Wurstscheiben ab oder kleckste Marmelade neben die Butter. Später fand man ihn auf den Speichern oder in den Kühlhäusern, wo er Reis- oder Nudelsäcke, Eimer voller Gewürzgurken oder gefrorene Fleischblöcke im Verbund bis unter die Decke stapelte. Und am Ende des Tages, wenn alle Lieferungen abgearbeitet waren und das Geschirr in den Waschtunneln klirrte, kratzte er Angebackenes oder Verkohltes aus den riesigen Töpfen und spritzte sie mit dem Dampfstrahler blank. Es war an einem Freitag, als ihm dabei jemand auf die Schulter tippte.
    Nach dem Lärm in der Halle fühlte man immer einen leichten Schwindel, trat man in den Klinikgarten. Die Sonne stand tief, und in der Abendstille war kaum mehr zu hören als das Knistern der Schweißbrenner am Nordrand des Geländes, wo die neue Pathologie entstand. Der Oberpfleger, wie stets im tadellos weißen Kittel mit eingesticktem Namenszug, bot ihm eine Zigarette an, und während Oswald seine freundlichen Fragen mit »Gut« und »Danke« und »Es geht« beantwortete, kam er dem Feuerzeugflämmchen etwas zu nah.
    Rasch wischte er über die versengte Braue, und Herr Grothe, so hieß sein Chef, lachte. »Was sind das für Pranken! Mit dir möchte ich auch keinen Krach kriegen, Mann. Du würdest mich am ausgestreckten Arm verhungern lassen, oder? Wie viele Reissäcke kannst du noch mal tragen – gleichzeitig, meine ich?«
    Oswald zuckte mit den Schultern. »Na, vier doch«, sagte er. »Die haben jetzt diese Griffe ...«
    Der andere rieb sich das Kinn. »Zwei Zentner also? In meiner Lehrzeit, als ich allein im Nachtdienst war, ist mir mal ein Patient aus dem Bett gefallen, der wog kaum die Hälfte. Und glaubst du, den hätte ich wieder hochgekriegt? Der liegt immer noch tot in meinem Gewissen.« Er stieß ihm den Ellbogen in die Seite. »Aber wie man mit Altlasten lebt, weißt du ja selbst ...«
    Sie setzten sich auf eine Bank vor dem Goldfischteich. Das große Krankenhaus war fast eine kleine Stadt; es gehörte zur Universität, und von der gläsernen Augenambulanz über die elfstöckige, in ganz Europa berühmte Kinderklinik bis zum weiß verputzten Zahnmedizinischen Institut hatte jeder Fachbereich sein eigenes Gebäude, die Chirurgie sogar zwei. Alle waren unterirdisch miteinander verbunden durch ein Labyrinth mehr oder weniger breiter Tunnel, und wenn man an einem Lüftungsgitter stand, konnte man das Hupen der elektrischen Versorgungszüge hören. Auch die Kranken schob man dort unten zwischen den Kliniken herum, und der eine oder andere Arzt fuhr auf dem Rad zu seinem Kollegen, der um eine Konsultation gebeten hatte. Den meisten Schwestern freilich grauste es vor diesen Katakomben, weil angeblich Füchse darin lebten.
    »Wir haben ein Problem«, sagte der Oberpfleger, Zigarette im Mundwinkel. Er wies auf die Kastanien am Horizont und fragte ihn, ob er schon einmal in der alten Pathologie gewesen sei.
    Oswald schob die Unterlippe vor, stieß den Rauch aus und nickte. Ein flacher Bau mit einem Asbestdach, stand sie jenseits der Baracken der Gärtner in einer Senke, die schon nicht mehr zum Klinikbereich zu gehören schien; offenbar sollte den Patienten der Anblick von Särgen und Leichenwagen erspart bleiben. Hinter schmalen Fenstern aus Glasbausteinen befanden sich die Kühlräume und der Sektionssaal, in dem es drei große Tische aus altem, schon rosafarbenem Marmor gab, schartig an den Kanten, und eine Zeitlang hatte Oswald den Pathologen und ihren Assistenten dort unten das Essen gebracht.
    Ein wenig unheimlich konnte es einem schon

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