Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
Vom Netzwerk:
Wollen wir Liebesgedichte schreiben?« Da wusste er nicht, was er antworten sollte. Er schüttelte nur den Kopf und ließ, verwirrt vor Scham, das Wechselgeld liegen.
    Herr Grothe hatte sein Versprechen gehalten; am nächsten Sonntag hing ein Kittel mit Namenszug in der Pathologie, und während er ihn zuknöpfte, blickte er über die Wiese. Zwei Möbelwagen mit Hamburger Kennzeichen parkten in der Einfahrt zur Villa, und ein Lastenaufzug lehnte am Balkon im ersten Stock. Männer in blauen Monturen hievten Sessel, Teppiche und Matratzen auf die Ladeflächen, und Vincents Mutter, die sich die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte und einen Jogging-Anzug trug, lief mit einem Klemmbrett durch die Räume, einer Liste wohl, strich durch oder hakte ab und übte dabei Koloraturen. Ihr Mann stellte Gartenmöbel zusammen und breitete eine Plane darüber. Der Junge war nirgends zu sehen.
    Es wurde nicht kühler in diesem September. Trotz der lamellenverkleideten Lüftungslöcher in den Wänden hatte sich auch in der Pathologie die Tageshitze gestaut. Das Kondenswasser tränte von den Fliesen, die Abflüsse rochen faulig, und Oswald öffnete die Flügeltür zum Parkplatz, um etwas Durchzug zu schaffen, ehe er mit der Arbeit begann. Viele waren gestorben in der Nacht. Nicht nur in dem Gang vor der Pathologie stauten sich die Betten, auch auf den helleren Bahnen unter dem Klinikpark standen sie längs der Wände, so dass an manchen Stellen kaum noch Platz war für die Elektrokarren mit ihren Anhängern voller Essen, Wäsche oder grau gekleideter Putzkolonnen. Mehrfach, besonders in den Kurven, hatten sie die Matratzen gestreift und dabei die Tücher von den Leichen gerissen.
    Oswald verstaute eine nach der anderen in den Kühlräumen und schob die leeren Betten zunächst ins Freie. Das dauerte fast zwei Stunden, und danach war ihm schwindelig vor Hunger; er trank etwas Milch und aß eine alte Brezel und einen Müsliriegel aus dem Brotschrank der Gehilfen. Dann ging er durch den Sektionsraum in den Vortragssaal und nahm sich ein paar der S-förmigen Haken vom Rand des großen, mit Armen, Beinen und verschiedenen Rumpfteilen gefüllten Beckens. Faserige Hautfetzen schwebten in dem Formalin.
    Über dreißig Betten: Die Bezüge blendeten im späten Licht, und ein Hauch von Schatten lag in den Mulden, die auf den Kissen verblieben waren. Oswald verband jeweils vier Gestelle mit den Fleischhaken und zog sie durch die leicht ansteigenden Gänge in die Halle unter der Gynäkologie, einem riesigen Bunkergewölbe. Hier wurden auch die Container mit schmutziger Wäsche gestapelt, der infektiöse und der normale Müll sortiert und die Elektrokarren geparkt, und nachdem er seine Arbeit getan hatte, streifte er die Handschuhe ab und spielte ein paar Minuten Fußball mit den Fahrern. Fürs Tor waren sein Reflexe zu langsam, doch die Verteidigung lag ihm recht gut.
    Als er wieder in die Pathologie kam, stand bereits ein neues Bett vor der Tür, ein seitlich vergittertes aus der Kinderklinik. Unter dem Tuch lag ein blondes Mädchen um die sieben, am Herzen operiert, wie es schien; der Oberkörper war noch braun von der Desinfektionslösung. Viel dunklere Augenschatten als die erwachsenen Toten hatte es, sogar die Lider schimmerten graublau; doch das kam bei Kindern oft vor. Die Blässe des Gesichts dagegen schien auf eine geheimnisvolle Weise über seine Konturen hinauszureichen, und Oswald, der es ruhig und aufmerksam betrachtete, sah keine Spur von einem Kampf oder einem letzten großen Schmerz darin. Die Andeutung zweier senkrechter Falten über der Nasenwurzel verlieh ihm zwar einen verständnislosen oder auch missbilligenden Ausdruck, doch wurde der durch den Mund, sein vages Lächeln, wieder abgeschwächt. Man hatte die Brustwunde der Kleinen mit Metallklammern zugeheftet, ähnlich denen, die man auch in Büros verwendet, und als er sie anhob, fiel ihr langes Haar kühl über seinen Unterarm. Da schloss er einen Moment lang die Augen.
    Irgendwo schrillte eine Klingel, ein melodischer Ton, und ein Schatten strich über die Fliesen. »Was hat sie?«, fragte Vincent, der plötzlich in der offenen Hoftür stand. Sein weißes T-Shirt war mit einem Fuchs bedruckt, und hinter ihm auf dem Parkplatz lag ein robustes Bike, dessen Räder sich noch drehten. »Ist sie ohnmächtig?«
    Oswald schüttelte den Kopf. Damit er so wenig wie möglich sehen konnte von der Toten, kehrte er dem Jungen den Rücken zu und sagte leise über die Schulter: »Ach,

Weitere Kostenlose Bücher