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Shakespeares ruhelose Welt

Shakespeares ruhelose Welt

Titel: Shakespeares ruhelose Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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10. Juli 2010. Im Globe können heutige Londoner Theaterbesucher die Aufführungen zur Shakespearezeit nacherleben, realisiert mit moderner Technik.
    Gabeln waren in den 1590er Jahren, als diese hier verloren ging, der letzte Schrei; für einen nüchternen Englishman allerdings, der es vorzog mit den Fingern zu essen, etwas unerträglich Ausländisches. Dazu Julian Bowsher:
«Der Reiseschriftsteller Thomas Coryate besuchte 1608 Italien und kam mit der Nachricht zurück: ‹Sie haben dort diese merkwürdigen Dinge, mit denen sie essen, Gabeln genannt und aus Eisen gemacht.› Er hatte sich ein Exemplar mitgebracht und darum allerhand Spott zu ertragen; jeder habe ihn gefragt: ‹Was willst du bloß mit diesem fremdländischen Ding?›»
    Ob Tischsitten oder Degenfechten, den meisten Menschen im spätelisabethanischen London war italienische Eleganz suspekt, halbseiden, einfach fremdländisch. Darum ist der Fund einer solchen Gabel zwischen Schalenbilliger Muscheln und Schnecken ein aussagekräftiger Hinweis auf das breite soziale Spektrum, das Shakespeare mit seinen Stücken erreichte. Sie richteten sich tatsächlich an die ganze Gesellschaft.
    Doch Genuss war nicht nur Sache der Zuschauer. Während sie perlendes Ale tranken, konnten sie hin und wieder verfolgen, wie Schauspieler auf der Bühne sehr viel üppigere Feste feierten. In vielen Stücken Shakespeares gehört das Essen zum sozialen Spiel, ist hochdramatisch und enthüllt den wahren Charakter der Akteure. Für Falstaff – Shakespeares gewaltigen Vielfraß – enthält jede Szene das Versprechen eines neuen Festgelages:
«FALSTAFF: Meine schlanke Ricke! Nun mag der Himmel Kartoffeln regnen: er mag donnern nach der Melodie [von Greensleeves]; er mag Gewürznelken hageln und Muskatkuchen schneien; es erhebe sich ein Sturm von Versuchungen: – Hier ist mein Obdach!»
    Joan Fitzpatrick, Historikerin der elisabethanischen Küche, erläutert, wie das Publikum Falstaffs kosmisches Bankett verstanden hat:
«Kartoffeln waren etwas völlig Exotisches, absolut neu für ein englisches Publikum. Wahrscheinlich hatten die meisten einfachen Leute noch nie eine Kartoffel gesehen oder damit zu tun gehabt. Falstaff kann also an geben mit diesem fremden Nahrungsmittel. Dann geht er über zu Lutschbonbons, die den Atem süß machen, ein Genussmittel, mit Verliebtheit verbunden: ein Liebesmittel. Und zuletzt verlangt er «eryngoes [maritimum]», die kandierte Wurzel der Stranddistel, ebenfalls ein Aphrodisiakum.»
    Der typische Engländer, da können wir sicher sein, hat weder Liebespastillen noch kandierte Distelwurzel mit der Gabel gegessen; wer aber beim Ausflug ins Rose Eindruck schinden wollte, der oder die schon.
    Indem sie derart vielfältige Spuren von Gaumenfreuden im Theater zu Tage förderten – von der simplen Austernschale bis hin zur eleganten Konfektgabel –, konnten die Archäologen zeigen, wie sehr sich englische playhouses von den meist höfischen Theatern des Kontinents unterschieden. In Londoner Theatern kamen Höflinge und gemeines Volk zusammen. Ob sie mit schmutzigen Fingern aßen oder zierlich mit Besteck – alle sahen sie das gleiche Stück. Die erstaunliche Vielfalt der von Shakespeare auf die Bühne gebrachten Charaktere spiegelt die soziale Mischung seines Publikums.

Kapitel Vier
    Leben ohne Elisabeth
    Portrait der Tudordynastie
    D ie wirklich großen politischen Fragen sind – in Großbritannien zumindest – immer solche gewesen, über die offen zu sprechen sich niemand traute. So etwa 1936, als die Verfassungskrise, die König Eduard VIII. mit seiner Beziehung zu Mrs. Simpson heraufbeschworen hatte, in der amerikanischen und kontinentaleuropäischen Presse breit diskutiert wurde, in englischen Blättern dagegen überhaupt nicht auftauchte.
    Untereinander werden die Menschen, die in den 1590er Jahren Shakespeares Stücke sehen wollten, gewiss über die große Verfassungsfrage ihrer Tage gesprochen haben; jede öffentliche Debatte dieses Themas jedoch hatte Königin Elisabeth per Gesetz verbieten lassen. Es war eine Frage, die über eine Generation lang im Mittelpunkt englischer Politik stand: Wer würde der alternden Monarchin nachfolgen? 1936 drehte sich die Krise um Sex und Religion; ganz ähnlich 400 Jahre zuvor, nämlich 1536, als Heinrich VIII. Anne Boleyn hatte hinrichten lassen und damit begann, Englands Klöster aufzulösen. In den 1590er Jahren war das Thema drängender: Es ging ums Überleben der Nation.
    Zur gleichen Zeit wurde

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