Shakespeares ruhelose Welt
auf der Londoner Bühne das beliebte Genre des Historienstücks neu definiert, wo nicht sogar neu erfunden. Die anonymen Historiendramen des frühen sechzehnten Jahrhunderts sind inzwischen weitgehend vergessen, verdrängt durch die Wucht und das Raffinement derStücke, die Shakespeare und Christopher Marlowe in den 1590er Jahren schrieben. Im Kern sind Shakespeares Historien Untersuchungen der Thronfolgekonflikte und Bürgerkriege des fünfzehnten Jahrhunderts: der Rosenkriege. Shakespeare war es, der den Augenblick imaginiert hat, von dem diese Kriege ihren Namen bezogen: Er ließ seine Protagonisten eine rote oder eine weiße Rose pflücken, quasi symbolisch, als Zeichen der Treue zu den Häusern Lancaster beziehungsweise York:
Heinrich VI., Teil 1, 2. Akt, 4. Szene. Die «Gartenszene» ist wohl eine Erfindung Shakespeares: Die rivalisierenden Lords – Herzog von Somerset und Graf von Suffolk (die Lancaster-Partei), der Graf von Warwick und Richard Plantagenet, noch Herzog von Gloster, später von York (die York-Partei) – wählen weiße oder rote Rosen: als Zeichen ihrer Gefolgschaft.
«WARWICK: … Und prophezeie hier: der heut’ge Zank,
Der zur Parteiung ward im Tempel-Garten,
Wird zwischen roter Rose und der weißen
In Tod und Todsnacht tausend Seelen reißen.
RICHARD: Euch, guter Meister Vernon, sag’ ich Dank,
Daß Ihr die Blume mir zu Lieb gepflückt.
VERNON: Beständig will ich, Euch zu Lieb, sie tragen.»
Es war eine neue Dynastie, die Tudors, die den Rosenkrieg schließlich beendete, indem sie die einander befehdenden Zweige des alten Königshauses vereinte. Richard III. endet mit einer bewegenden Rede Richmonds, des siegreichenHeinrichs VII., der nun Elisabeth von York heiraten und damit schließlich zu Königin Elisabeths Großvater werden wird:
Lucas de Heere , Tudor-Allegorie, 1571/72. Die um den Rahmen laufenden Verse unterstreichen Elisabeths Anspruch als rechtmäßige Erbin ihrer Vorfahren: «Erfolgreich und zu Englands Freude [hält sie fest] an Recht und Tugenden der Drei.»
«RICHMOND: … Und dann
… vereinen wir die weiß’ und rote Rose.
Der Himmel lächle diesem schönen Bund,
Der lang’ auf ihre Feindschaft hat gezürnt!
Wer wär’ Verräter g’nug, und sprach’ nicht Amen?
England war lang’ im Wahnsinn, schlug sich selbst:
Der Bruder, blind, vergoß des Bruders Blut;
Der Vater würgte rasch den eignen Sohn;
Der Sohn, gedrungen, ward des Vaters Schlächter;
All dies entzweiten York und Lancaster,
Entzweiet selbst in greulicher Entzweiung. –
Nun mögen Richmond und Elisabeth,
Die echten Erben jedes Königshauses,
Durch Gottes schöne Fügung sich vereinen!
Mög’ ihr Geschlecht (wenn es dein Will’ ist, Gott!)
Die Folgezeit mit mildem Frieden segnen,
Mit lachendem Gedeihn und heitern Tagen!»
Mit diesen Worten beschönigt Heinrich VII., der erste Tudor-König, nichts. Der bucklige Richard (der seine Neffen im Tower erbarmungslos ermorden ließ) war gerade seinerseits getötet worden. Heinrich steht kurz davor, die neue Dynastie der Tudors zu begründen und damit, wie er hofft, den Schrecken der Bürgerkriege zu beenden, die in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts in England tobten.
Doch eine Frage blieb von Anfang an ohne Antwort: Wie lange würde dieses Arrangement Bestand haben? Nicht einen Moment lang gab es im England des sechzehnten Jahrhunderts keine Thronfolgekrise, von Heinrichs VII. Gründung des ungesicherten Königshauses der Tudors über Heinrichs VIII. verzweifelte Suche nach einem Sohn bis zur Frage nach einem Erben während der Regentschaften von Eduard, Maria und Elisabeth. Dies zeitgenössische Thronfolgedrama war es, das Shakespeares Historienstücken den Biss gab, der die Zuschauer anzog. Wenn die Monarchin starb, würde jeder, auf jeder Ebene der Gesellschaft, das Unglück zu spürenbekommen, das daraus nur folgen konnte. Die Furcht von Instabilität lauert in diesen Stücken, treibt die Könige um, die sie nervös bevölkern:
«HEINRICH IV.: Gibst du, o Schlaf, parteiisch deine Ruh’
Dem Schifferjungen in so rauher Stunde,
Und weigerst in der ruhig stillsten Nacht
Bei jeder Foderung sie einem König?
So legt, ihr Niedern, nieder euch, beglückt;
Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt.»
Von Anbeginn ihrer Regentschaft stand die entscheidende Frage im Raum, wer Elisabeth nachfolgen würde. Und wenn darüber in den 1590er Jahren auch nicht offen diskutiert werden durfte, so konnte sie doch immerhin in Bildern behandelt
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