Shakespeares ruhelose Welt
Wintermärchen Shakespeares wohl großartigste Meditation über Zeit. Wenn ein Mann das Standbild seiner toten Frau sieht, die dann wunderbarerweise zum Leben erwacht, so ist es, als könnten wir die Zeit zurückdrehen und jeder menschliche Verlust – Trauer, Schuld, sogar der Tod – irgendwie geheilt werden, zumindest in der phantastischen Geschichte eines Theaterstücks. In diesem Stück gibt es sogar jenen außergewöhnlichen Augenblick, in dem die Zeit selbst, in Fleisch und Blut, zur Bühnenmitte geht, von wo aus sie zunächst, dramaturgisch hilfreich, den sechzehnjährigen Zeitsprung erläutert, zugleich aber nachsinnt über die unaufhaltsame Macht, die sie über das unruhige, sich ewig wandelnde Menschenleben ausübt:
«[Die Zeit tritt auf als Chor]
ZEIT: Ich, die ich alles prüfe, Gut’ und Böse,
Erfreu’ und schrecke, Irrtum schaff’ und löse;
Ich übernehm’ es, unterm Namen Zeit
Die Schwingen zu entfalten. Drum verzeiht
Mir und dem schnellen Flug, daß sechzehn Jahre
Ich überspring’ und nichts euch offenbare
Von dieser weiten Kluft, da meine Stärke
Gesetze stürzt, in einer Stund’ auch Werke
Und Sitten pflanzt und tilgt.»
Selbst wenn die Zeit nicht in persona auf der Bühne ist, nicht reflektiert und philosophiert, so gibt es kaum ein shakespearesches Sonett, kaum eine Theaterszene, die nicht das Thema Zeit aufnimmt. Dazu Nicholas Hytner vom National Theatre:
«Das Vergehen von Zeit und das, was die Zeit bewirkt, tauchen wieder und wieder auf in Shakespeares Stücken. «Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,/Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,/Zur letzten Silb’ auf unserm Lebensblatt». Diese [wie es bei Shakespeare heißt] «syllable of recorded time» ist ein Bild, das jemand nur nach Erfindung der Uhr ersinnen kann. Die Vorstellung, dass Zeit in kleinen Einheiten vergeht, dass «alle unsre Gestern führten Narr’n/Den Pfad des stäub’gen Tods», dass Macbeth gefangen ist in einem riesigen tickenden Mechanismus, dass die menschliche Rasse festsitzt im Inneren einer langsam tickenden Uhr, die mit ihrem Ticken unentwegt Silben, Sekunden verschlingt bis zum Ende der Welt – das ist ein Bild von ungeheurer Kraft.»
Auch ältere Methoden der Zeitmessung tauchen auf – Stundenglas und Sonnenuhr. Mercutio etwa sagt zu Julias Amme, gewiss mit heftigem Zwinkern: «[der geile Finger der Sonnenuhr steht auf des Mittags Spitz]». Häufiger jedoch erscheinen Uhren – ihr Schlagen wird in Szenenanweisungen verlangt und von den Charakteren kommentiert. Das Schlagen der Uhr treibt den komischen Plot in Komödie der Irrungen und in Die Lustigen Weiber von Windsor voran und steigert, in Hitchcock-Manier, die Spannung in den Historien und Tragödien. Selbst dem antiken Rom wird, als Mittel der Dramatisierung, anachronistisch eine Uhr spendiert: In Julius Caesar hören wir, während die Verschwörung ausgebrütet wird, eine Uhr schlagen:
«TREBONIUS: Es ist kein Arg in ihm: er sterbe nicht,
Denn er wird leben und dies einst belachen.
Die Glocke schlägt.
BRUTUS: Still! Zählt die Glocke!
CASSIUS: Sie hat drei geschlagen.
TREBONIUS: Es ist zum Scheiden Zeit.»
Während die Attentäter darauf warten, ihren Freund und Anführer zu hintergehen, schlägt die Uhr unbeirrbar und interpunktiert die Verschwörung: Wir erfahren, dass es am Morgen gerade acht geschlagen hat, als sich Caesar aufmacht zum Kapitol, und als Porzia um neun nach Neuigkeiten fragt, wissen wir, dass Caesar bald sterben wird.
Theatralische Spannung war ein Nebenprodukt des mechanischen Gangs der Zeit, doch nicht nur im Theater verbreitete die Zeit ein bedrohliches Gefühl. Auch am Arbeitsplatz wurde sie häufig als Instrument der Unterdrückung erlebt. Dazu Paul Glennie:
«Es gibt, bevor die Zeitdisziplin durchgedrückt wird, eine Menge Beschwerden über Umfang und Intensität der Arbeit, auch über erbarmungslose Aufseher; insofern liegt es nahe, die Uhr zum Schuldigen zu erklären. Jeder, der davon ausgeht, dass das Leben in der vorindustriellen Welt etwas Idyllisches hatte, hat keine Ahnung davon, wie dringend es beispielsweise war, die Ernte vor dem Regen einzubringen. Doch ist wohl auch wahr, dass Vorstellungen davon, wie hart die Menschen arbeiten müssen, wie regelmäßig und wie durchdringend ihre Leistungen kontrolliert werden, sehr eng damit zusammenhängen, wie Uhren eingesetzt werden können, um eben das zu registrieren. Zeitmessung wird zur Überwachung.»
Insofern waren es nicht nur die Uhren, die
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