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Shana, das Wolfsmädchen

Shana, das Wolfsmädchen

Titel: Shana, das Wolfsmädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Kopf nicht durchdringen würde. Mir war richtig übel, aber ich versuchte es trotzdem.
    »Elliot, ich habe einen Brief bekommen.«
    Er kratzte mit einer Hand seinen Rücken und schlurfte in die Küche. Er war über und über schweißnass.
    »Einen Brief, so?«
    »Aus Vancouver. Von dem Professor.«
    Er rückte das Horngestell auf seiner Nase zurecht.
    »Von welchem Professor?«
    »Robert Castaldi, der Musiklehrer. Er ist ein ganz berühmter Geiger. Gibt Konzerte und so.«
    »Was will er von dir?«
    »Lela Woodland hatte ihm von mir erzählt.«
    »Lela?«, murmelte er. »Die ist doch schon lange tot . . .«
    Ich ballte die Fäuste. Er war kein Mensch mehr, mit dem ich sprechen konnte. Ich merkte es jetzt.
    Er stellte den Fernseher an, setzte sich. Das Fernsehen war zu laut, aber ich sagte nichts.
    »Ist noch Bier da?«, knurrte er.
    Ich dachte, vielleicht hört er dann zu. Ich holte eine Dose aus dem Kühlschrank. Er nahm sie, hielt sie mit ausgestrecktem Arm von sich.
    »Das ist sie doch, oder?«, fragte ich.
    Er öffnete die Dose, setzte sie an den Mund, nahm einen Schluck. Dann stellte er sie auf sein Knie.
    »Ja«, sagte er. »Und was ist mit dem Musiklehrer?«
    »Ich soll ihm vorspielen.«
    »So. Und dann?«
    »Vielleicht unterrichtet er mich.«
    Er drehte die Bierdose auf seinem Knie, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.
    »Und was wird aus mir?«, murmelte er.
    Ich hatte jetzt ein Ziel vor Augen und wurde auch besser in der Schule. Ich wollte nicht mehr mit heißem Kopf am Küchentisch sitzen und einen Brief achtmal neu schreiben, bevor er fehlerfrei war. Also gab ich mir Mühe. Stanley Egger fiel auf, dass ich Fortschritte machte. Eines Tages behielt er mich nach dem Unterricht da und stellte mir einige Fragen über mein Leben. Ich sagte ihm, dass ich Geige spielte.
    Das machte ihm Eindruck. »Musik verändert das ganze Wesen«, meinte er und sein warmes Lächeln gefiel mir. »Eines Tages wirst du feststellen, dass du alles Schöne und Gute in dir der Musik verdankst.« Er zögerte ein wenig und setzte hinzu: »Und noch was. Versuche deinem Vater nicht böse zu sein. Er ist nicht so stark wie du.«
    Ich dachte über seine Worte nach. Es war schon so, dass Elliot Dinge tat, die er eigentlich nicht tun wollte. Es war, als hätte er noch einen anderen Menschen in sich, dem er gehorchte und vor dessem Gesicht er sich schämte.
    Der letzte Sonntag im April. Ich hatte meine Arbeit in Marthas Laden getan und wollte noch etwas üben. Mein Vater war nicht da. Ich ging in mein Zimmer, wollte den Geigenkasten aus der Schublade nehmen. Die Schublade war leer.
    Wie der Bruchteil eines flüchtig betrachteten Bildes erschien vor meinem inneren Auge die Erinnerung an ein früheres Erlebnis, genau hier, in diesem Zimmer. Und es war auch die gleiche Schublade gewesen. Die Vision zuckte auf und verschwand. Zurück blieb eine Blindheit wie nach dem Aufflackern eines Blitzes. Etwas schüttelte mich von innen. Ich hörte das Geräusch meines eigenen Atems, während ein Fetzen Klarheit in mir geradezu von selbst dachte:
    Elliot hat die Geige verkauft, genau wie damals das Kleid meiner Mutter.
    Das Zimmer drehte sich vor meinen Augen und wurde schwarz. Ich kämpfte gegen die Verzweiflung an, ich fürchtete, sie würde mich in Stücke reißen. Irgendwie aber musste ich Ruhe bewahren. Gut nachdenken. Nicht mehr durchdrehen wie schon einmal. Ich ließ mich auf die Knie fallen, tastete unter meinem Bett und holte die Blechdose hervor, in der ich meinen Lohn aufbewahrte. Das Geld war noch da. Wahrscheinlich hatte Elliot mein Zimmer nach Geld durchsucht, nichts gefunden und sich an die Geige erinnert. Oder war der Grund ein anderer? »Was wird aus mir?«, war seine Frage gewesen, als ich ihm von Castaldis Brief erzählt hatte. Hatte er die Geige genommen, damit ich nicht wegkonnte?
    Ich holte tief Luft. Wollte er den Kampf, sollte er ihn haben! Ich rannte die Treppe hinunter, lief aus dem Haus und holte mein Fahrrad.
    Archies Bar befand sich mitten im Dorf, gleich hinter dem Motel. Ich stellte mein Fahrrad an die Hauswand und stieß die Tür auf. Countrymusik dröhnte mir in den Ohren. Die Luft war stickig vor Rauch. Es war keine große Bar. An den Wänden hingen die Wimpel verschiedener Baskettballklubs, einige ausgebleichte Schädel von Karibus und Hirschen und eine Anzahl alter Waffen. Ein paar Männer saßen an den Tischen, andere auf Hockern an der Bar. Ich erkannte ein paar Väter meiner Mitschüler. Im schummrigen Licht sahen

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