Shana, das Wolfsmädchen
fröhlich war. Doch was sie am meisten an mir mochte, war meine Musik. Fast immer »sang« sie mit mir, auch auf die Gefahr hin, dass sie mich aus dem Takt brachte, was ich mir aber gerne gefallen ließ. Immer, wenn ich diese tiefen, ergreifenden Töne hörte, spürte ich Schauer am Körper bis in die Kniekehlen. Bevor sie begann, ließ sie einige Winseltöne hören, wedelte mit den Schwanz. Dann hob sie das Maul und »sang« mit meiner Geige gemeinsam, sodass ich oft für ein paar Sekunden das Gefühl hatte, wir »sängen« im völligen Gleichklang. Das machte mich besonders glücklich.
Wie sollte es weitergehen? Ich wusste, dass Professor Castaldi im Frühling wieder in Vancouver war. Ob ich ihn anrufen sollte? Ich hatte Angst. Es war mir immer peinlich, wenn etwas zu direkt kam. Eigentlich albern, aber es war nun mal so. Ich entschloss mich also ihm zu schreiben. Der Brief kostete mich viel Mühe, weckte schmerzliche Erinnerungen. Und gleichzeitig drückte ich mich wie ein Trottel aus, machte Fehler. Etliche Entwürfe landeten im Papierkorb. Endlich war der Brief fertig und ich brachte ihn zur Post. Vielleicht, dachte ich niedergeschlagen, würde ihn der Professor gar nicht lesen. Lela war tot und er hatte mich längst vergessen. Umso mehr staunte ich, als knapp eine Woche später ein Brief aus Vancouver in unserem Briefkasten lag. Er trug den Absender R. Castaldi und war für mich.
»Liebe Shana«, schrieb der Professor. »Der Verlust Lelas trifft mich ebenso hart wie dich. Die von dir erwähnten Einzelheiten haben mich tief betroffen gemacht. Dass du Lela in ihrer Todesstunde beistehen konntest, war für dich eine harte Prüfung, für sie jedoch ein unermesslicher Trost.«
Außerdem schrieb er, dass er täglich, außer montags, in der Musikhochschule anzutreffen sei. Er gab mir seine Privatnummer mit der Bitte, ihm ein paar Tage im Voraus meine Ankunft mitzuteilen. Für mein Vorspielen wollte er sich Zeit nehmen.
Ich konnte nicht sagen, welche Gefühle der Brief in mir auslöste. Mein Vater war nicht da, ich hatte ihn seit zwei Tagen nicht zu Gesicht bekommen. Ich nahm an, dass er mal wieder bei einer seiner Frauen untergetaucht war. Aber mein Glück musste ich mit jemandem teilen. Und wer sollte das anderes sein als meine Gefährtin, die Wölfin? Ich holte mein Fahrrad, befestigte den Geigenkasten auf dem Gepäckträger und fuhr in Richtung Wald. Es war das einzige Mittel, meiner Unrast, meiner Freude nachzufahren, den Augen der Erwachsenen zu entfliehen, noch ehe sie merken konnten, was mit mir los war. Ich fuhr mit dem Wind und seiner lauen Kühle, der Wald duftete nach Sonne und Harz, die Straße flirrte vor mir im Licht. Mit meinem Fahrrad raste ich in den Frühling hinein, erfüllt von Vorfreude, Dankbarkeit und Erwartung.
In Schleifen und Umwegen durchfuhr ich kleine Pfade, warf verschwitzt mein Fahrrad ins Gras und erreichte atemlos die Lichtung. Und wie um diesen Tag perfekt zu machen, trat, kaum war ich da, die Wölfin aus dem Unterholz. Sie kam nicht lautlos und schleichend, sondern erschien mit einem kleinen Sprung, als ob sie meine Freude gefühlt hätte. Sie warf sich hechelnd ins Gras, wälzte sich herum, wedelte heftig mit dem Schwanz. Und voller Glück stimmte ich die Geige und spielte das »Rondo« von Mozart, ein Stück, das meiner Stimmung am meisten entsprach. Ich begann mit wenig Bogendruck, verwendete aber schnelle Striche. Die Wölfin lauschte, den Kopf schräg gelegt, stieß einige Winsellaute aus, die ihre Freude ausdrückten. Ich steigerte allmählich den Druck des Bogens, hielt jeden Ton nicht gleich lang, wie es sich bei diesem Stück gehörte, sondern änderte immer wieder die Geschwindigkeit. Dabei dachte ich, Professor Castaldi würde entsetzt sein, was ich mit Mozarts »Andante grazioso« anstellte! Aber das war mir jetzt gleich. Nur meine Wölfin war hier und das leise Heulen, das wie ein fernes Echo der Musik aus ihrer Kehle drang, schien zu sagen: »Ich freue mich mit dir!«
20. KAPITEL
Mein Vater kam wieder, wie ein Geschlagener. Es war schrecklich, ihn in diesem Zustand zu sehen, aber was konnte ich tun? Sein Gesicht war aufgedunsen, sein Unterkiefer zitterte. Er stolperte die Veranda hinauf, machte mit den Armen sinnlose Bewegungen. Ich empfand Wut auf ihn und gleichzeitig Mitleid, weil er so allein war, so einsam. So wie meine Wölfin es spürte, ob ich verängstigt, traurig oder glücklich war, so erkannte ich, dass alles, was ich sagen konnte, das Dunkel in seinem
Weitere Kostenlose Bücher