Shana, das Wolfsmädchen
Blick auf die leere Schublade, legte mich aufs Bett und starrte vor mich hin. Mit weit offenen Augen schaute ich an die Decke, sah zu, wie das Licht sich verdunkelte. Wie in Trance lag ich da. Ich hatte das Gefühl, dass ich kein einziges Mal blinzelte, dass ich nur starrte und starrte. Die Nacht kam, der Schatten der Blätter zuckte an den Wänden. Als es dunkel war, stand ich auf, machte Licht. Ich wanderte im Zimmer herum, auf Beinen, die immer wieder einknickten. Ich nahm etwas Wäsche und Socken aus dem Schrank, zwei T-Shirts, Jeans zum Wechseln, einen warmen Pullover. Das Ganze stopfte ich in einen Rucksack. Ich holte die Blechdose unter dem Bett hervor, glättete sorgfältig die Scheine und steckte sie zusammen mit meinem Ausweis und Castaldis Brief in ein selbst genähtes Ledertäschchen, das ich unter meinem T-Shirt um den Hals trug. Dann verließ ich das Zimmer, schloss sorgfältig die Tür. Auf der Treppe gaben die Knie unter mir nach; ich fiel hart gegen die Wand, rieb mir ächzend die schmerzende Schulter. Ich ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank. Bei Martha bekam ich Lebensmittel zu verbilligtem Preis, manchmal steckte sie mir etwas zu, Schokolade und solche Dinge. Sie sagte, du bist noch im Wachstum und viel zu dünn. Ich trank Milch, nahm mir eine Scheibe Brot, bestrich sie mit Erdnussbutter, kaute langsam. Nach einer Weile fiel mir das Denken leichter. Es war meine Geige. Sie gehörte mir. Mein Vater hatte nicht das Recht gehabt, sie zu verkaufen. Was nun? Zur Polizei gehen, Anzeige erstatten? Gegen meinen Vater? Ja, das wäre möglich. Aber was dann? Brachte es mir die Geige zurück? Jeff Morgan war ein reicher, angesehener Mann. Ein Weißer. Was war mein Vater? Ein betrunkener Indianer. Die Geige zurückkaufen? Zweihundert Dollar, die hatte ich nicht, bloß fünfunddreißig und ein paar Cents. Außerdem, wie bringt man jemand dazu, etwas zu verkaufen, das er behalten will? Lieber das Risiko eingehen. Ein großes Risiko. Lange, bevor ich mir alle Einzelheiten zurechtlegte, wusste ich bereits, was ich tun würde. Ich fegte die Krümel auf dem Tisch zusammen, warf sie in den Ausguss, schwenkte das Glas mit Wasser aus und stellte es in die Spüle. Danach packte ich einen halben Brotlaib ein, Erdnussbutter, etwas Schokolade. Ich kochte Kaffee, füllte eine Thermosflasche. Was noch? Ach ja, ein Taschenmesser und Streichhölzer, man konnte nie wissen. Dann nahm ich meinen Parka vom Haken, warf meinen Rucksack über die Schultern und ging. Die Haustür ließ ich offen. Elliot würde wissen, was das zu bedeuten hatte.
21. KAPITEL
Zehn Uhr abends. Ich kauerte unter einem Pappeldickicht und wartete. Den Rucksack hatte ich im Unterholz verborgen. Im Haus brannte Licht, ich sah Gestalten kommen und gehen. Es roch nach Essen und das Wasser lief mir im Mund zusammen. Der Schein des Fernsehers flackerte nach draußen. Ein junger Schäferhund lag an der Kette. Er hatte ein paar Mal gewinselt. Mit Hunden auszukommen war eigentlich kein Problem. Ich dachte, ich bin schon seit Stunden hier, er hat sich an meinen Geruch längst gewöhnt. Langsam kroch ich näher, verringerte die Distanz zwischen mir und dem Tier, bis ich nahe beim Zaun kauerte. Ein Fenster war offen, ich hörte die Stimmen aus dem Fernsehen, das Klappern von Tellern. Der Hund kam mit klirrender Kette näher. Er streckte den Hals aus, beschnüffelte mich und ich streichelte seine nasse Nase. Er wedelte freundschaftlich; es war ein junges Tier, tollpatschig und verspielt. Der Wolfsgeruch, mochte er ihn oder nicht? Vielleicht kam er ihm vertraut vor. Ich sprach leise zu ihm, ahmte sein Winseln nach. Er drückte sich an den Zaun, damit ich ihn streicheln konnte.
Plötzlich wich er zurück. Eine Frau trat aus der Tür. Ich duckte mich tiefer. Der Hund lief in weichen, etwas ungeschickten Sprüngen der Frau entgegen. Sie stellte einen Futternapf vor das Hundehaus und ging. Die Nacht war ruhig, der Mond beinahe voll. Die Bäume standen unbeweglich und silbern. Manche mochten denken, dass die Nacht schwarz war, aber keine Nacht war so schwarz wie ein Körper, der sich vor einem helleren Hintergrund abhebt. Ich kauerte mich im Schatten und wartete.
Stunden vergingen. Im Haus gingen die Lichter aus. Die Tür wurde geschlossen. Nur in einem Zimmer brannte Licht. Ich nahm an, dass es Franks Zimmer war. Frank surfte im Internet, das hatte er in der Schule gesagt. Es wurde zwei, bis auch er das Licht löschte. Wieder verging Zeit. Ich rührte mich
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