Shana, das Wolfsmädchen
nicht. Die leisen und undeutlichen Eindrücke für Auge und Ohr, die zu mir hindrangen – das Rascheln der Blätter, das Piepsen eines verschlafenen Vogels –, klangen friedlich. Bald stand der Mond tief und schräg. Als ich nach Osten spähte, schimmerte hinter den fernen Hügeln der erste Schein der Dämmerung. Wollte ich handeln, dann jetzt. Ich erhob mich, stieß leise das Tor auf und ging durch den Garten. Der Hund knurrte und hob den Kopf.
»Ssssst!«, flüsterte ich. »Schlaf weiter!«
Der Hund gähnte, schüttelte den Kopf und legte ihn wieder auf die Pfoten. Lautlos ging ich an ihm vorbei. Ich fror und meine Beine waren vom langen Sitzen ganz steif geworden. Hinten am Haus befand sich ein Fenster, das zur Toilette gehörte. Der Fensterladen war mit einem Haken versehen und hing schon früher schief, sodass zwischen Sims und Laden eine gute Handbreit offen war. Dahinter blieb das Fenster meist angelehnt. Bei Lela war es jedenfalls so gewesen. Ich nahm an, dass der neue Besitzer den Laden noch nicht ausgebessert hatte, denn Einbrüche waren selten in der Gegend. Und richtig: Es war genau wie vorher. Ich stellte mich mit dem Rücken an die Wand, schob umständlich den Arm zwischen die Lamellen und dem Fensterbrett. Meine tastenden Finger fanden den Haken. Es war nicht einfach, ihn zu bewegen, hoffentlich glitt er mir nicht aus der Hand! Aber ich war geschickt. Es gelang mir, den Haken hoch zu schieben und aufzufangen, ohne dass er Lärm machte. Mit kaum hörbarem Knirschen sprang der Laden auf. Und tatsächlich, das Fenster dahinter war offen! Ich wartete, bis mein Atem wieder ruhig ging. Jetzt kam der schwierigste Teil. Ich klammerte mich am Fensterbrett fest und zog mich hoch, wobei ich seitwärts mit dem Bein tastete. Ich hatte kaum Platz, mich zu drehen, aber endlich war ich oben. Zusammengekauert, den Kopf zwischen die Schultern geklemmt, setzte ich mich rittlings auf das Fensterbrett. Mein Herz schlug so laut, dass mein ganzer Körper zitterte. Auf beide Hände gestützt, drehte ich mich mühsam auf den Bauch und rutschte nach innen. Meine tastenden Füße berührten den Klodeckel. Ich stützte mich leicht auf ihn auf, ließ mich behutsam auf den Boden gleiten. Klamm vor Schweiß lehnte ich an der Wand. Immerhin war der Anfang gemacht. Vorsichtig öffnete ich die Tür.
Im Flur war alles wie früher, sogar der Schuhschrank am Eingang stand noch da. Im schwachen Licht von draußen konnte ich die Gegenstände erkennen; zum Glück kannte ich mich im Haus gut aus. Aber zuerst galt es, den Fluchtweg vorzubereiten. Ich traute mir nicht zu in höchster Eile durch das Klofenster zu steigen. Die Haustür? Nein! Die war mit einem schweren Riegel versehen. Ich schlich in die Küche; die Einrichtung war neu und modern. Aber die schmale Tür mit dem Fliegengitter, die in den Garten führte, war dieselbe wie früher. Ich drehte geräuschlos den Schlüssel, öffnete die Tür einen Spaltbreit. Ausgezeichnet! Ich ging zurück in den Flur. Im Treppenhaus fiel kein Licht. Ich zog Lelas Taschenlampe hervor, knipste sie an. Das tat ich ungern, aber ich hatte bemerkt, dass die Besitzer einige Möbel angeschafft hatten. Ich wollte nichts umwerfen oder gegen eine Kante prallen. Zuerst das Wohnzimmer: Hier war alles anders. Der Lichtkegel huschte über ein niedriges Sofa, einige Sessel, ein moderner Teppich. Ein großer Wandschrank mit Stereoanlage und Fernseher nahm eine ganze Seite des Wohnzimmers ein. Auf dem Esstisch stand noch ein voller Aschenbecher. Eine Wanduhr mit bleichem Zifferblatt tickte. Es roch nach kaltem Rauch. Die Geige war bestimmt nicht hier. Ich zog mich zurück, ging die Stufen hinauf; zweimal knarrten die Bretter unter meinen Füßen, aber nichts im Haus regte sich. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Im ersten Stock bemerkte ich an der Wand die Spuren der erst kürzlich abgenommenen Bilder. Es war ein gespenstisches Nichtdasein, Flächen, von denen nur undeutlich erkennbare Umrisse blieben. Lelas ehemaliges Schlafzimmer gehörte jetzt den Eltern. Die Tür stand eine Handbreit offen; dahinter waren schwere, schlürfende Atemzüge hörbar. Zwei kleinere Zimmer lagen gleich gegenüber. Bei einem stand die Tür offen. Ich spähte hinein: Im Zimmer stand eine leere Bücherwand, ein Bettsofa. Das Zimmer musste für den ältesten Sohn bestimmt sein, der in Banff studierte. Im Zimmer daneben schlief Frank. Ich drückte das Ohr an die Tür, hörte pustende Geräusche. Was, wenn er die Geige in seinem
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