Shana, das Wolfsmädchen
stieg mir in die Nase, nicht eigentlich scharf, eher schwer und süßlich. Meine Hand berührte warmes, weiches Fell. Die Wölfin stand dicht neben mir, ich kraulte sie am Hals unter dem Kinn. Ich spürte, wie Zärtlichkeit und Vertrauen den Tierkörper durchliefen. Die Wölfin legte die Ohren flach und wedelte voller Zuneigung.
Meine Tränen trockneten. Ein seltsames Gefühl des Friedens, der Ruhe, zog in mir ein. Nach einer Weile legte ich die Geige zurück in den Kasten und gab der Wölfin zu verstehen, dass ich gehen wollte. Sie trat ein wenig zurück. Ich sagte: »Bis morgen! Wir werden wieder zusammen singen.«
Und dann machte ich mich auf den Weg ins Dorf und die Wölfin Lela begleitete mich. Sie setzte die Hinterpfoten genau auf die Spur der Vorderpfoten, sodass sie nur einen ganz schmalen Abdruck in der weichen Erde hinterließen. Und als ich mich am Waldrand nach ihr umsah, war sie verschwunden. Nur noch das Abendlicht glitzerte golden im Unterholz.
19. KAPITEL
Meinem Vater ging es nicht gut. Es lag wohl daran, dass er einfach nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte, und seine Krankheit wurde durch das ewige Trinken auch nicht besser. Er hing mit Frauen rum, ich hörte manchmal Gerüchte. Aber er liebte nur eine: Melanie. Und Melanie war nicht mehr. Er kam einfach nicht darüber weg und versuchte seine Erinnerung mit Alkohol zu betäuben. Es geschah ein paar Mal, dass Archie Bridges mich mitten in der Nacht holen ließ. Archie, der Besitzer der Bar neben dem Motel, war ein vernünftiger Mann. Er sagte zu mir:
»Es ist besser, du kümmerst dich um deinen Vater.«
Er wusste, dass Elliot, wenn er betrunken war, auf keinen hörte außer auf mich. Meistens war es so, dass zwei oder drei Männer Elliot unter dem klebrigen Tisch wegzerrten, ihn auf die Beine stellten. Ich nahm ihn bei der Hand.
»Los, Elliot, wir gehen!«
Und er folgte mir wie ein Kind. Es kam allerdings vor, dass er nicht gehen konnte. Dann fand sich meistens eine gute Seele, die ihn in einen Pick-up pferchte und ihn vor unserem Haus ablud.
In der Schule traf ich Frank, Jeff Morgans jüngsten Sohn. Ein schwerknochiger Bursche, einen Kopf größer als ich, obwohl er ein ganzes Jahr jünger war. Es passte ihm offenbar nicht, in einer Schule voller Indianer der einzige Weiße zu sein. Er machte ein verdrossenes Gesicht und sagte immer wieder, er sei nur für kurze Zeit da. Bis Stanley Egger ihn eines Tages satt hatte.
»Okay, mein Junge, demnächst wechselst du die Schule, hoffentlich ein bisschen klüger als jetzt. Inzwischen wünscht dein Vater, dass du deine Ausdrucksweise verbesserst. Widmen wir uns also diesem Vorhaben!«
Und nahm ihn massiv in die Zange. Er war gar nicht so übel, unser Mr Egger!
Der letzte Schnee schmolz, das Licht veränderte sich. Die heimgekehrten Vögel lärmten in den Baumkronen. Fast über Nacht füllte sich das Hochtal mit weichem, hellem Grün. Ich fragte mich, ob die Wölfin sich jetzt auf die Suche nach ihrem Rudel machen würde. Wölfe halten immer fest zusammen. Aber ein Rudel muss weite Wanderungen unternehmen, um Beute zu reißen. Wahrscheinlich fehlte es der Wölfin an Kraft. Sie hatte sich abgesondert, ging ihre eigenen Wege. Dabei hatte sie nicht das ängstliche, angriffslustige Verhalten eines rangniederen Tieres. Sie trug den Kopf aufrecht, hielt den Schwanz hoch. Ihr Blick war ruhig und dominant. Wölfe besetzen ein enormes Revier. Sie ziehen ihre Reviergrenzen, hinterlassen ihre Spuren und markieren diese Grenzen mit Urinspritzern. Wo war Lelas Revier? Hier? Warum ausgerechnet? Ich nahm an, dass sie ausreichend Beute fand. Es gab viel Kleinwild im Wald, auch Beeren, denn Wölfe ernähren sich nicht ausschließlich von Fleisch. Dass Lela meinetwegen blieb, weil sie mich und meine Musik liebte, wagte ich kaum zu denken.
Und doch schien es so. Vielleicht erkannte sie von weit her meinen Geruch? Ich fühlte immer und überall ihre Gegenwart. Als ob unsichtbare Augen mich beobachteten. Augen, die mir wohlgesinnt waren, die mir sagten: »Ich bin da! Ich beschütze dich!« Das war nur in meiner Einsamkeit ein großer Trost. Und mein Geheimnis zugleich. Keiner kannte die Geschichte. Die Mitschüler hatten genug Unfug im Kopf. Und mein Vater hätte sich Sorgen gemacht.
Er wusste nicht, dass die Wölfin sich von mir streicheln, ja sogar umarmen ließ. Sie zeigte eine tiefe Einfühlsamkeit, die mich stets aufs Neue verblüffte. Auf merkwürdige Weise schien sie zu wissen, ob ich traurig oder
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